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"Komm und bleib": So wirbt der Kulturstandort Schiffbauergasse für sich. Tagsüber ist es oft noch sehr ruhig.

© Andreas Klaer

Bestandsaufnahme Schiffbauergasse: Luft nach oben

Lange haderte Potsdams Kulturstandort mit dem Ruf, totsaniert zu sein. Im Sommer erlebte er eine stürmische Belebung. Und jetzt? Eine Bestandsaufnahme zum Ende der Sanierungsära.

Potsdam - Auf die Frage, was er an Potsdam bestimmt nicht vermissen wird, hatte der Intendant Tobias Wellemeyer bei seinem Weggang 2018 zwei Antworten. Die erste: die Provinz. Die zweite: „Die Dunkelheit auf der Schiffbauergasse zwischen Oktober und April.“ Jetzt sind die kalten Tage wieder da und es ist zu beobachten, dass Wellemeyer immer noch recht hat. Auf der Schiffbauergasse, dem Kunst- und Kreativzentrum der Stadt Potsdam, ist es abends zugig und düster. Wer kein Fahrrad hat, kommt nur schwer wieder weg. Wer sich nicht auskennt, kommt nur schwer ans Ziel.

Totsaniert? Im Sommer 2021 so lebendig wie nie

Das ist die eine Wahrheit. Die andere ist: Die Schiffbauergasse insgesamt geht erfrischt, fast wie neugeboren aus dem letzten Sommer hervor. Es war dort über lange Wochen so viel los wie noch nie zuvor. Jahrelang hatte die Schiffbauergasse mit dem Ruf kämpfen müssen, sie sei „totsaniert“ worden – wer in diesem Sommer dort unterwegs war, sah das Gegenteil. Sah Theater, Tanz, Kino und Konzerte open air. Sah aber auch, was hier sonst einzelnen Veranstaltungen wie „Stadt für eine Nacht“ vorbehalten war: Menschenmassen, die im Quartier unterwegs waren, ohne konkretes Event, einfach so. 

Jugendliche, die sich während der Pandemie monatelang nicht sehen durften, kamen zu Hunderten her, um zu trinken, zu feiern, Musik zu hören – so intensiv, dass es Beschwerden von Anliegern hagelte. Stefanie Buhr, Vertreterin von Kinder und Jugendinteressen, sprach im letzten Kulturausschuss von 30 Beschwerden im Juli. Über Lärm, aber auch über den Müll.

Birgit-Katharine Seemann, Leiterin des Fachbereichs Kultur und Museum in Potsdam, kennt die Schiffbauergasse seit 2005.
Birgit-Katharine Seemann, Leiterin des Fachbereichs Kultur und Museum in Potsdam, kennt die Schiffbauergasse seit 2005.

© Andreas Klaer

Das Ende einer Ära

Hier der andauernde Wunsch nach mehr Belebung, dort Beschwerden über die Probleme, die eine solche Belebung mit sich bringt: Beides steht in der Schiffbauergasse aktuell nebeneinander. 30 Jahre nach der ersten Erschließung des Gebiets durch Kulturakteure soll die Schiffbauergasse nun den Status eines Sanierungsgebiets hinter sich lassen. So will es eine Vorlage der Verwaltung, die demnächst in den Fachausschüssen diskutiert werden soll. 

Mit dem Ende der Sanierungssatzung verlören die Orte, die hier für die Kultur entstanden, ihre festgeschriebene Bestimmung als Orte der Kultur. Dann könnte theoretisch jemand auf die Idee kommen, in der fabrik einen Fashionstore zu eröffnen. Damit das nicht passiert, sollen die Stadtverordneten über eine neue Fassung des „Bebauungsplans Nr. 23“ entscheiden. Darin wäre dann die jetzige Nutzung dauerhaft festgeschrieben.

Juliane Höpfner ist seit Ende 2020 als Standortmanagerin für das Kulturamt vor Ort.
Juliane Höpfner ist seit Ende 2020 als Standortmanagerin für das Kulturamt vor Ort.

© Andreas Klaer

Für die Schiffbauergasse steht also das Ende einer Ära ins Haus. Aus einem Ort, der im Entstehen ist, wird ein Ort, der am Ende seiner Entwicklung angekommen ist. Ein guter Zeitpunkt, um zu fragen: Hat die Schiffbauergasse das Ziel ihrer Bestimmung erreicht? Ist sie „fertig“? 

Schon 1992 ist ein Theaterneubau geplant

„Orte für Kunst und Kultur sind ja nie ‚fertig’“, sagt Birgit-Katharine Seemann. „Zum Glück.“ Seemann ist Fachbereichsleiterin für Kultur und Museum in der Verwaltung der Landeshauptstadt und kennt die Schiffbauergasse seit 2005. Ihren ersten Besuch auf der Schiffbauergasse nennt sie heute als einen der Gründe, sich für den Posten in Potsdam zu entscheiden. Der Charme des Ortes im Umbruch, der halbsanierte Zustand, die kreative Atmosphäre: All das zog sie in den Bann. 

Schon als die Stadtverordneten 1992 erstmals ein Sanierungsziel für die Schiffbauergasse formulieren, ist der Theaterneubau mit eingeplant. Das formulierte Ziel: „Die Entwicklung eines integrierten Kulturstandortes mit Theaterneubau und freien Kulturträgern sowie die Ansiedlung zukunftsweisender Gewerbe.“ 

Bettina Jahnke leitet das 2006 neu eröffnete Hans Otto Theater seit 2018.
Bettina Jahnke leitet das 2006 neu eröffnete Hans Otto Theater seit 2018.

© Andreas Klaer

2002 wurde das 11,9 Hektar große Sanierungsgebiet offiziell beschlossen. Insgesamt 96,5 Millionen Euro sind seitdem in die Baumaßnahmen geflossen. Das Denkmalamt hatte bei allem ein Wörtchen mitzureden, und machte davon regen Gebrauch. Manchmal, wie im Fall des Kesselhauses, führte das zu Komplikationen. Als das alte Kesselhaus abgerissen wurde, blieb der Neubau des Architekten Wolfhardt Focke jahrelang nur mit waschbetongrauer Fassade ausgestattet und sah aus, als wäre er am liebsten nicht da. 

Der Nachteil wurde zum Vorteil

Die Vorgabe des Denkmalamtes: Das Gebäude sollte in den Hintergrund treten. Was auch dazu führte, dass die Künstlergruppe „Klebebande“ einen geplanten Entwurf für das Haus in letzter Minute durch einen unauffälligeren ersetzen musste. 

Seit Ende September strahlt das Kesselhaus aber in neuen Farben und wenn man Birgit-Katherine Seemann fragt, dann hat die Schiffbauergasse mit diesem Sommer auch insgesamt ein neues Kapitel aufgeschlagen. „In der Pandemie wurde hier deutlich, dass das, was oft als Nachteil galt, ein riesiger Vorteil sein kann: Hier gibt es Platz.“ Man müsse ihn nur richtig nutzen. 

Waschhausleiter Mathias Paselk wünscht sich eine Betreiberschaft aus einer Hand.
Waschhausleiter Mathias Paselk wünscht sich eine Betreiberschaft aus einer Hand.

© Ottmar Winter PNN

Die Stadt unterstützte das in diesem Jahr mit der Initiative „Im grünen Bereich“. Der Parkplatz neben der fabrik wurde zum „Kulturplatz“, ein Zelt namens „Tiffi“ wurde neue Open-Air-Spielstätte, neben dem Fluxus-Museum wurde eine grüne Blumenwiese gepflanzt. Sogar die massive, oft verlassen wirkende Open-Air-Bühne kam zu ihrem Auftritt: Das Waschhaus verlagerte pandemiebedingt fast sein ganzes Programm dorthin.

Eine Reihe von Problemen bleibt

Und jetzt, alles gut also? Die Schiffbauergasse mag ihrer Bestimmung so nahe sein wie noch nie – aber es bleibt eine ganze Reihe von Problemen. Die Spuren der jugendlichen Feierwut dürften das geringste Problem sein. Juliane Höpfner, seit Dezember 2020 Standortmanagerin der Schiffbauergasse und Schnittstelle für Gewerbe, Kunst und Stadtverwaltung, berichtet von produktiven Runden Tischen, an denen auch Jugendliche beteiligt sind. 

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Ein junger Mann, der sich Schiffbauer-DJ nennt, vermittle stark und versuche für Ordnung nach dem Feiern zu sorgen. Kulturbeigeordnete Noosha Aubel (parteilos) hatte der Debatte im Kulturausschuss deutlich ihre Grenzen aufgezeigt: „Wir müssen das alle ein Stück weit aushalten.“ Noch deutlicher sagte sie: „Wichtig ist es, dass es ein klares Zeichen aus der Politik gibt, dass Jugendliche Räume im öffentlichen Raum besetzen können.“

Müll, Nachhaltigkeit, Verkehrsanbindung

Nach aktuellen Problemen gefragt, wird die Müll-Sorge auch nur am Rande von den Anliegern vor Ort genannt. Bettina Jahnke, Intendantin des Hans Otto Theaters, freut es, dass die Schiffbauergasse seit kurzem unter Jugendlichen ein „place to be“ ist. In Sachen Müll und Lärm müsse „noch an einigen Stellschrauben gedreht werden, damit das Miteinander besser funktioniert“. Ein „nachhaltiges Müllkonzept“ vermisst auch Sabine Chwalisz, Leiterin der fabrik. Für Chwalisz gehören ebenfalls auf die Nachhaltigkeits-Agenda: „Fragen nach neuen Heizkonzepten für die Häuser, wie Solaranlagen, Wasserrückgewinnung, Trinkbrunnen oder Dach- und Fassadenbegrünung .“

Der Schatten der neuen Openairbühne auf der historischen Bausubstanz aus den 1880er Jahren. 
Der Schatten der neuen Openairbühne auf der historischen Bausubstanz aus den 1880er Jahren. 

© Andreas Klaer

Intendantin Bettina Jahnke, die Nachfolgerin Wellemeyers, nennt als dringendstes Problem nach wie vor: die Verkehrsanbindung an das Stadtzentrum, wenngleich sich diese schon verbessert habe. Und: „eine bessere Beleuchtung in den Abendstunden“ sowie „das Wegweiser/Beschilderungssystem auf dem Gelände“. 

Am wichtigsten aber scheint ein grundsätzliches Problem, Waschhausleiter Mathias Paselk nennt es „den Flickenteppich“ der Schiffbauergasse: Es gibt kein einheitliches Betreibermodell. Für die Bewirtschaftung ist die kommunale Wohnungsholding ProPotsdam zuständig, Koordinierung und Vermarktung der Kultur liegen beim Standortmanagement, für das Juliane Höpfner arbeitet. 

Die offene Frage der Betreiberschaft

Paselk wünscht sich endlich eine Betreiberschaft aus einer Hand: „Sinnvoll wäre dabei auch, insbesondere für die Nutzung der Freiflächen, ein vereinfachtes Antragsverfahren zur Flächennutzung zu entwickeln.“ Bislang würden Freiflächen von ganz unterschiedlichen Stellen bewirtschaftet und vermietet – was allein das Aufstellen eines Dj-Pults zur Odyssee werden lässt.

Als Option für die Frage nach dem neuen Betreibermodell stand die Gründung einer eigenen Stiftung im Raum. Inzwischen ist diese wieder vom Tisch, was das Kulturamt bestätigt – „wegen des hohen Gründungs- und Unterhaltungsaufwandes und der geringen Einflussmöglichkeiten der Landeshauptstadt Potsdam“.

Das Verfahren zur Rechtsform für den Betrieb der Schiffbauergasse laufe aber noch, heißt es offiziell. Inoffiziell ist der Ärger über die Stadt und das abgesagte, von den Kulturschaffenden bevorzugte Stiftungsmodell groß – sie erfuhren davon aus der Zeitung. 

Ein Grund für die ziemlich laue Bewertung der Schiffbauergasse insgesamt? Auf einer Skala von 1 bis 10, wie sehr die Schiffbauergasse ihr Potenzial ausschöpft, vergeben Jahnke und Chwalisz sechs Punkte, Paselk sieben. Fazit? Positiv, ja. Aber bis zum Ziel der Träume bleibt noch jede Menge Luft nach oben.

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Zur Geschichte

Ab 1991 entdecken kulturbegeisterte Aktivisten das zuvor durch Militär und Industrie genutzte Gelände der Schiffbauergasse für sich. 1992 finden die ersten, heute legendären Techno-Konzerte im Waschhaus statt, 1993 gründet sich der Verein des Waschhauses. 1994 zieht die fabrik aus der Gutenbergstraße auf das Gelände, die letzten sowjetischen Soldaten gehen. 2003 wird als erstes Gebäude die Koksseparation saniert, der Softwareentwickler Oracle zieht ein. Der Neubau des Hans Otto Theaters nach Entwürfen von Gottfried Böhm beginnt, das VW Design Center Europe baut in der Schiffbauergasse und zieht 2005 her. 2006 wird der Theaterneubau eröffnet, 2008 das Parkhaus. Im gleichen Jahr sind Waschhaus, fabrik und T-Werk fertig saniert. 2012 entstehen das Boardinghouse – sowie ein Spielplatz und eine öffentliche Toilette. 2019 eröffnet Katarina Witt ihr Fitnessstudio in einem Neubau. Im Oktober 2021 zieht die Health and Medical University (HMU) in den „Oracle-Turm“. 

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