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Aus Marmor, nicht aus Zucker: Mieze (Jella Haase) wird zur Beschützerin von Francis (Welket Bungué).

© Sommerhaus/eOne Germany

„Berlin Alexanderplatz“ im Kino: Auf den Spuren Döblins, von Guinea-Bissau bis in die Hasenheide

Burhan Qurbanis kühne Adaption von „Berlin Alexanderplatz“ erzählt den zeitlosen Klassiker aus der Perspektive eines afrikanischen Geflüchteten.

Schaumgeboren, aber nicht reingewaschen. So wird Francis an Land gespült. Damit er leben darf, hat jemand sterben müssen. Nachts zischen Leuchtraketen. Die Wellen des Meeres glühen blutrot. Nicht die Nordsee ist Mordsee, sondern das Mittelmeer. Francis ist ein neuer Mensch, aber die Schuld und die Albträume der alten trägt er mit sich. Die Kameradrohne gleicht dem Auge Gottes, das hoch über dem verletzlichen Individuum schwebt. Noch mit dem Kopf im feuchten Sand tut Francis seinen Schwur: „Von nun an will ich gut sein.“ Ja, wenn das so einfach wäre.

Burhan Qurbanis kühne Idee, „Berlin Alexanderplatz“ aus der Weimarer Republik, der Großen Depression, in die Gegenwart zu transponieren, ist sofort stimmig. Auch wenn der fiebrige Tonfall dieses heiß-kalten Stücks literarischer Moderne nun einer eleganten, immer wieder von abstrakten Sphärenklängen untermalten Maschinerie des Schicksals gewichen ist.

Franz Biberkopf, der Kleinkriminelle des Jahres 1929, den Heinrich George und Günter Lamprecht in den Verfilmungen 1931 und 1980 noch als deklassierten deutschen Proleten verkörpert haben, ist jetzt ein afrikanischer Geflüchteter. Und damit die Chiffre des 21. Jahrhunderts. Nord-Süd-Gefälle, Klimakatastrophe, Kriege und politische Konflikte nähren den Strom der Unglücklichen, die eine neue Heimat suchen. Die, die da sind, und die, die kommen, eint eine Triebfeder: Sie wollen mehr vom Leben als ein Bett und ein Butterbrot. Da geht es Francis heute nicht anders als damals Alfred Döblins Held Franz.

Beim deutschen Filmpreis gab es fünf Lolas

An Bett und Butterbrot hat es dem 1980 als Sohn afghanischer Emigranten in Deutschland geborenen Burhan Qurbani nicht gefehlt. Doch das Gefühl, fremd zu sein und als Fremder angeschaut zu werden, ist seit seinem Berlinale-Debüt „Shahada“, mit dem er 2010 im Wettbewerb vertreten war, in jeden Film eingeflossen. Mit „Berlin Alexanderplatz“ hat er im vergangenen Februar auf dem Festival beeindruckt, aber erst beim Deutschen Filmpreis fünf Lolas gewonnen, darunter die silberne Lola in der Kategorie „Bester Film“ und eine goldene für die Bildgestaltung (Yoshi Heimrath).

Tatsächlich besticht Qurbanis Berlin-von-unten-Saga neben der Relevanz der Themen Migration, Rassismus und moderne Sklaverei, seinem atmosphärischen Sounddesign und der in großzügigem Cinemascope retardierenden Slowmotion durch die von einem expressiven Farbkonzept geprägte visuelle Gestaltung. Rot, Gelb, Blau, Türkis, Lila – die Berliner Nacht der Clubs, Tabledancebars und Bordelle steckt voller Leuchtstoffröhren. Beim Bruch tragen die Räuber beleuchtete Fratzen als Maskierung, was bei aller Freude an Silke Buhrs Lola-prämiertem Szenenbild dann doch zu viel der Manierismen ist.

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Im Gegensatz zum starken symbolischen Einstieg von Francis in die Unterwelt. Der Mann aus Guinea-Bissau lebt in einem Heim tief im Wald vor den Toren Berlins und schuftet nachts im Stadtzentrum mit anderen „Illegalen“ ohne Papiere auf einer riesigen Tunnelbaustelle. Lärm, Dreck und schwefelgelbe Scheinwerfer. Der Zutritt zum reichen Westen scheint mit der Ausbeutung im Höllenschlund erkauft. Die Kamera folgt in ausgedehnten Fahrten Francis, der sich mit traumwandlerischer Souveränität durch den lärmenden Hades bewegt. Dieser muskulöse Glücksritter mit dem Vorschlaghammer ist kein Opfer. Als eine Pumpe explodiert und einer der Arbeiter verletzt wird, schleppt Francis ihn zum Neptunbrunnen am Alexanderplatz und ruft einen Krankenwagen.

Nicht aus Zucker, sondern Marmor

Neptunbrunnen und Volkspark Hasenheide, das sind die Tageslichtorte eines Films, der anders als die Romanvorlage keine kopfsprengende Stadtcollage aus Orten, Dialogen, Dialekt, Geräuschen, Figuren ist. Qurbani und sein Co-Autor Martin Behnke lassen Döblins damals spektakuläres Stilmittel – die Simultanität – bewusst fahren und verdichten stattdessen die metaphorische Überhöhung.

Wobei es bei den Überfällen der Bande vom Unterweltboss Pums (Joachim Król), der Francis sich anschließt, durchaus Tempo und Action gibt. Ebenso bei den Drogenrazzien im Park, wo der von seinem neuen Freund Reinhold (Albrecht Schuch) auf Franz getaufte Francis zuerst nur als Koch für die Dealer fungiert.

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Schöne Idee, dass für die erzählerische Metaebene ausgerechnet Mieze (Jella Haase) zuständig ist, die als Liebende und Mordopfer in „Berlin Alexanderplatz“ traditionell den Dulderinnenpart weiblicher Güte und Ohnmacht innehat. Zwar trumpft die modernisierte Mieze als selbstbewusste Sexarbeiterin auf und behauptet „Ich bin nicht aus Zucker, sondern aus Marmor“. Doch erst die kindliche Stimme der allwissenden Erzählerin verleiht ihr Tiefe und Macht.

Sündenbabel-Mythos in den Nachtclubs

Mal zärtlich, mal sarkastisch wendet sie sich an das Publikum: „Ihr werdet sehen, wie Francis drei Mal strauchelt, fällt, wie er aufsteht und schließlich endgültig an dieser Stadt zerbricht.“ Ein von Qurbani mehrfach eingesetzter Brecht’scher Verfremdungseffekt, der nicht nur Distanz schafft, sondern auch als Reminiszenz an die Zwanziger fungiert.

Regisseur Burhan Qurbani war schon mit seinem Debüt auf der Berlinale dabei.
Regisseur Burhan Qurbani war schon mit seinem Debüt auf der Berlinale dabei.

© Imago

Deren unvermeidlichen Sündenbabel-Mythos zitiert auch das Nachtleben in Gestalt des Clubs von Francis’ Freundin Eva (Annabelle Mandeng) und der trans Frau Berta (Nils Verkooijen). Und dann ist da noch eine indirekte Verbindung. Durch die Besetzung von Joachim Król als gemütlich-gefährlichem Gangsterboss Pums. Der überzeugte jüngst erst im Kino in einem anderen Zwanziger-Klassiker: als Bettlerkönig Peachum in der Neuverfilmung der „Dreigroschenoper“.

Kapitalistischer Webfehler in der Welt

Überhaupt, die Besetzung! Sie bringt das epische Drama in den streckenweise unter universeller Bedeutsamkeit ächzenden drei Stunden immer wieder auf Kurs. Den Vogel schießt Albrecht Schuch in der Rolle des kleinen Gangsters Reinhold ab. Sein an der Grenze zur Charge in verkrümmter Körperlichkeit mit verschlagenem Blick und Fistelstimme angelegter Psychopath ekelt fürchterlich an.

Dass ihm trotzdem die Frauen reihenweise ins Bett purzeln, die ihm dann Francis abnehmen soll, ist nur mit Geld und Macht zu erklären. Wenn überhaupt. Reinhold ist ein mephistophelischer Manipulator, ein Teufel. Erst in der Hassliebe zu Francis nimmt er menschliche Züge an.

Der jedoch taugt trotz seines als Passion erzählten Lebens und Leidens keinesfalls zum Christus. Das liegt nicht an Welket Bungué, der ihn überaus charismatisch – und auch ein wenig statuarisch – verkörpert. Sondern an seinem Charakter und damit am (kapitalistischen) Webfehler in der Welt, den „Berlin Alexanderplatz“ benennt.

„Was ist gut, was ist böse?“, herrscht Reinhold den skrupulösen Francis an. „Gras an Touristen zu verkaufen, Waffen an Diktatoren? Alles, was du siehst, ist auf Kosten anderer aufgebaut. Du willst etwas sein, was du nicht sein kannst: You want to be good in a world that is böse.“ Doch der Dieb, Zuhälter, Schläger Francis ist klug genug, um zu wissen, dass diese Karo-einfach-Moral seine Schuld nicht tilgt.
Ab Donnerstag in 19 Berliner Kinos

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