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Erinnerung an Novecento. Karen Schneeweiss-Voigt als Trompeter.

© Stefan Gloede

Bariccos „Novecento“ auf dem Theaterschiff: Die Grenzen der Kunst

Nicht jede Geschichte funktioniert überall. Alessandro Bariccos „Novecento“ etwa ist eigentlich ist ein leicht kitschiger Monolog.

Nicht jede Geschichte funktioniert überall. Alessandro Bariccos „Novecento“ etwa ist eigentlich ist ein leicht kitschiger Monolog. Verfilmt 1998 von Giuseppe Tornatore als „Die Legende vom Ozeanpianisten“. Ein melancholisches Nachdenken über Freundschaft und Musik und die Frage, wie man überhaupt zur Welt in Beziehung treten kann.

Niemand ist eine Insel? Nun, Novecento, die Hauptfigur in Bariccos Theatermonolog, ist eine. Und um ihn zu verstehen, ohne sich vom schmalzigen Mantel abschrecken zu lassen, müssen wir, die Zuschauer, zumindest die Insel besuchen. In dem Fall das Theaterschiff, das, seit es die Alte Fahrt verlassen musste, ein wenig stiefkindhaft hinter dem Hans Otto Theater dümpelt.

Und das genau richtig ist für diese Geschichte von Novecento, der sein Leben auf einem Schiff und zwischen den Welten verbrachte und der nie ein Land betreten hat. Die Schönheit dieser Vorstellung zieht einen erst mal rein in den Monolog des Trompeters Tim Tooney (Karen Schneeweiss-Voigt), der sich an seinen Freund und die gemeinsame Zeit auf dem Luxusdampfer „Virginian“ erinnert. Auf dem ist Novecento geboren, ausgesetzt und vom Heizer Danny Boodmann gefunden und aufgezogen worden. Und weil er nicht nur zwischen zwei Kontinenten, sondern auch zwischen zwei Jahrhunderten – in der Silvesternacht 1900 nämlich – zur Welt kam, nennt Boodmann ihn genau so: Novecento, 1900.

Als Boodmann bei einem Unfall stirbt, ist der Junge acht, zum zweiten Mal verwaist – und beginnt, Klavier zu spielen. Und das so gut, dass irgendwann sogar die größte lebende Jazzlegende, Jelly Roll Morton, an Bord geht, um sich mit ihm zu duellieren.

Man kann also vom ersten Moment an nicht anders, als diesen Typen zu lieben. Weil er, nüchtern betrachtet, alles mitbringt, was liebenswerte Helden in der Literatur so ausmacht. Er ist: elternlos. Geschichtslos. Ein Genie. Mit der richtigen Portion Trotz. Er geht nicht von Bord, die Welt kommt zu ihm. Er hört genau zu und lernt die Welt so vielleicht besser kennen, als wenn er sie durchwandert hätte. Und hält doch die richtige Distanz. Ruhm und Ehrgeiz sind ihm wurscht. „In den Arsch mit dem Jazz“, sagt er, als Jelly Roll Morton sich geschlagen davonmacht.

Man denkt an Jim Knopf, das andere seefahrende Findelkind der Literaturgeschichte, das gleichzeitig ein kompletter Gegenentwurf ist. Weil der die fremden Länder, die Novecento zwar aus den Augen der Passagiere auf- und in sich eingesogen hat, tatsächlich bereist. Bei Baricco heißt es: „In den Augen der Menschen sehen wir, was sie sehen werden – nicht, was sie gesehen haben.“ Karen Schneeweiss-Voigt schafft es, dass man Novecento in ihren Augen sieht. Viel mehr ist da auch nicht, die Bühne ist zwischen die Sitzreihen der Zuschauer verlegt, oder anders: Die Zuschauer sitzen auf der Bühne, weil das ganze Schiff die Geschichte leise schwankend miterzählt. Da verzeiht man Schneeweiss-Voigt auch, dass sie manchmal ein ein wenig zu schwärmerisch spricht, ihre Augen ein wenig zu sehr leuchten – der Text ist eigentlich auch so schon Weihnachtsgedicht genug. Zum Glück hat sich Thomas Gabriel ein ganz dezentes Bühnenbild ausgedacht und das Ganze so nicht zusätzlich überfrachtet.

Trotzdem folgt man Schneeweiss-Voigt gern durch Novecentos Leben, das als betörende Idee der Freiheit – er hat nie einen Pass, nie eine Staatsbürgerschaft, nie Angst, nicht mal bei Sturm – beginnt. Und das ihm am Ende doch zum Gefängnis wird. Weil er begreift, dass seine – wie jede – Kunst, nur in engen Grenzen funktioniert. „Achtundachtzig Tasten“, wirft er Tim Tooney am Ende hin. Mehr wäre zu viel. Der Mensch ist unendlich und die möglichen Variationen. Schon deshalb dürfen es nicht mehr Tasten auf dem Klavier sein, sonst verliert sich alles im Grenzenlosen. Ein bisschen traurig ist nur, dass Regisseur Marcel Pomplun der Geschichte um den Pianisten so wenig Musik zugestanden hat – und die auch noch vom Band kam, anstatt vom anwesenden Klavier. Ariane Lemme

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