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Futuristisch grüßt die Vergangenheit. Evelyn Richter fotografierte sich 1952 selbst – zur  Hochzeit der Formalismus-Debatte versah sie sich mit dadaistisch verfremdeten Insignien der Macht: Zepter und Krone. Die damals 22-Jährige wurde später zur wichtigsten Dokumentaristin der DDR. Das Foto hängt in „Hinter der Maske“ im Raum „Spiegelungen“.

© A. Klaer

Ausstellungs-Serie: Unerhörtes Selbst

Neun Themen, neun Bilder: Die PNN begleiten die Ausstellung „Hinter der Maske. Kunst in der DDR“ im Museum Barberini mit einem Rundgang durch die Themenkreise der Schau. Teil 2: Evelyn Richter und „Spiegelungen. Freie Zugänge zum Selbst“

Potsdam - Evelyn Richter scheint eine uneitle Frau zu sein. „Ich hatte nie einen Spiegel“, sagt sie in einem Film, den das nach ihr benannte Archiv in Leipzig der Fotografin widmet. Heutzutage ja – aber damals, in den 1950er-Jahren, „als ich noch jung und hübsch war“, da hatte sie keinen. Der Raum „Spiegelungen. Freie Zugänge zum Selbst“ in der Ausstellung „Hinter der Maske“ verdankt diesem an sich wenig interessanten Umstand sein interessantestes Bild. Denn weil sie keinen eigenen Spiegel hatte, erklärt Evelyn Richter im Film, habe sie Selbstporträts gemacht.

Fotografie-Ausbildung in Dresden

Und im Institut für Spannungstechnik an der Technischen Universität Dresden gab es offenbar Spiegel. Dort machte Evelyn Richter 1952 eine fotografische Ausbildung, bevor sie ein Jahr später an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst ihr Studium aufnahm. Als 22-Jährige fotografierte sie sich dort in einem Labor der TU selbst – und tat es doch auch nicht.

Auf dem Foto schaut einen keine junge Frau an, und auch erst beim zweiten Hinsehen ein Mensch. Ein futuristisch anmutendes Wesen aus nicht allzu ferner Vergangenheit steht da in einem engen Raum, die Beine staksig gespreizt. Ein Roboter? In den erhobenen Händen hält er oder es uns technisches Gerät entgegen, als wolle das Wesen etwas sagen. Nur was? Stolz sieht es aus, bizarr, und auf diffuse Weise furchteinflößend. Wo Mund und Augen sein sollten, scheinen schwarze Löcher zu klaffen.

„Selbstinszenierung. TU Dresden” heißt das Foto von Evelyn Richter. Kein Selbstporträt, sondern die Darstellung eines verkleideten Selbst. In diesem Fall eine junge Frau, Auszubildende, noch keine Fotografin von Weltrang, noch nicht mal Hochschulstudentin, noch „keine Instanz der dokumentarischen Fotografie“, wie sie Jahrzehnte später genannt werden sollte. Eine junge Frau am Anfang ihres Weges.

Unerhört: Die Insignien der Macht

Das Unerhörte an der Darstellung: Diese Frau hat sich mit dem Insignien der Macht ausgestattet. Auf dem Kopf eine Krone, in der Hand ein Zepter. Das noch Unerhörtere: Sie nimmt diese Insignien nicht ernst. Die Krone sieht aus wie ein schwarzer Eimer, das Zepter ein technisches Gerät. So zumindest sieht es die Kuratorin Valerie Hortolani, für die das Foto von Evelyn Richter zu den Favoriten der Ausstellung gehört. „Die Künstlerin hat sich extrem selbstbewusst als Herrscherin inszeniert, aber auch extrem verfremdet. Das ist in der Schwebe zwischen Humor und Selbstbewusstsein.“ Für Hortolani ist nicht der Humor das Wichtige an dem Bild, sondern sein experimenteller Gestus: „Dass man sich und seinen Körper braucht, um damit etwas zu machen.“

Mit dem Rücken zu den anderen

In dem „Spiegelungen“ übertitelten Abschnitt der Schau hängt Evelyn Richters Foto mit dem Rücken zu den klassischen Malerbildern von Willi Sitte, Arno Rink, Norbert Wagenbrett. Könnten die finsteren Augen der futuristischen Herrschergestalt sehen, sie sähen die an die 1920er-Jahre erinnernden Formexperimente im angrenzenden Raum. Und tatsächlich scheint sich Evelyn Richters Foto hier, in den 1920er-Jahren, zu verorten. Valerie Hortolani sieht Anlehnungen an den Dadaismus, an Hugo Balls „Cabaret Voltaire“ etwa.

Ob Richter selbst das damals bewusst war, kann die Kuratorin nicht mit Gewissheit sagen. Vor dem Hintergrund der Anfang der 1950er-Jahre in der DDR brodelnden Formalismus-Debatte aber wäre das Foto von Evelyn Richter ein Skandalon gewesen. Keine Formexperimente!, sagte die offizielle Doktrin der DDR. Ob Richters Foto damals überhaupt öffentlich gezeigt wurde, bezweifelt Valerie Hortolani. Bekannt hingegen ist: Das Studium, das Evelyn Richter kurz nach Entstehen des Werkes aufnahm, konnte sie nicht abschließen.

Nicht alles muss gegen etwas sein

Man kann Richters „Selbstinszenierung“ vor seinem Entstehungshintergrund also als unerhört aufmüpfig lesen, als dreiste Verhohnepipelung eines selbstgefälligen Herrschergestus: Ein Herrscher, dessen Augen, Ohren und Mund verschlossen sind. Als spielerische Gegenposition in einem Staat, der Augen, Ohren und Münder verschloss. So weit würde Valerie Hortolani aber nicht gehen. Eine solche Bewertung empfindet sie als anmaßend. „Nicht jedes Werk muss sich gegen etwas richten“, sagt sie. „Sondern es kann auch einfach Ausdruck eines künstlerischen Experimentierens sein. Und darin war Evelyn Richter sehr eigenständig.“

Und die Künstlerin ging, auch ohne Hochschulabschluss, ihren eigenen Weg. Fotografierte Theaterinszenierungen, Messen, Ausstellungen und immer wieder die Porträts von Malern, Musikern und Alltagsvolk, für die sie schließlich berühmt werden sollte. In den 1980er-Jahren unterrichtete sie dann sogar selbst an der Schule, von der sie einst geflogen war.

Betrachter löst das Gleichnis auf

An anderer Stelle in der Ausstellung sind weitere Fotos von Evelyn Richter zu sehen. Im Raum „Erbansprüche“ hängt die Serie „Bildkabarett mit den Academixern“ von 1976. Vor Werner Tübkes monumentalem Gemälde „Arbeiterklasse und Intelligenz“ posieren Mitglieder des Leipziger Kabaretts Academixer. Kuscheln mit den dargestellten Damen, stellen sich im Rock zu den kraftstrotzenden, heroisch dreinblickenden Arbeitern. Das kann man als Spaßinterventionen lesen, oder als Kommentar auf Tübkes Formsprache – oder auf sein idealisiertes Gesellschaftsbild. „Ein gutes Bild“, sagte die Evelyn Richter mal, „muss auch ein Gleichnis sein, tief erlebt, emotional verdichtet.“ Wofür das Gleichnis steht, entscheidet der Betrachter.

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