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Antje Rávik Strubel gibt Einblick in neuen Roman: Die Idee der demokratischen Freiheit

Die Potsdamer Autorin Antje Rávik Strubel arbeitet an einem Roman über die Festung Europa. Heute Abend im Thalia-Kino liest sie erstmals daraus. Hier schreibt sie, wie die Arbeit daran begann: Bei einem Stipendium in Rheinsberg

Antje Rávik Strubel schreibt an einem neuen Roman, aus dem sie heute im Thalia-Kino liest. „Blaue Frau“ wird er heißen, es soll um die Frage von Menschenrechten gehen, um „Europa als Sehnsuchtsort und gleichzeitig als eine Festung, in der es eine große Differenz zwischen Ost und West gibt“, wie die Autorin schreibt. Und nicht zuletzt auch um die Nachwendegeschichte. Die Versäumnisse im Umgang mit den osteuropäischen Staaten von westlicher Seite aus, was Anerkennung und Gleichstellung betrifft, haben der Potsdamer Autorin zufolge zu einer Situation beigetragen, in der sich viele dieser Staaten dagegen sperren, Flüchtlinge aufzunehmen. Der folgende Text ist eine „gedankliche Vorarbeit“ zu dem Roman, ein Auszug aus dem „Rheinsberger Brief“ – entstanden, als Antje Rávik Strubel 2016 in Rheinsberg Stadtschreiberin war. Auch einer der Handlungsorte des Romans wird hier eingeführt: das nördliche Brandenburg.

Ich habe ein Zimmer mit Ausblick für mich allein, schrieb ich Lena Andersson, einer schwedischen Autorin, als ich in Rheinsberg Stadtschreiberin war. Rheinsberg, vom schlanken Grün Ruppiner Seen und Wälder idyllisch umwachsen, ist eines jener Städtchen, die nur am Wochenende geöffnet haben. Dann nehmen Berliner in Ausflugslaune die Cafés an der Seepromenade in Beschlag und verlangen Zander und Schwedeneisbecher; dieses früher so begehrte Eis mit Apfelmus und Eierlikör. Schwedenbecher, schrieb ich der Schwedin, ist eine Erfindung einfallsreicher DDR-Gastronomen und hat mit Schweden so viel zu tun wie das schwedische Volksheim mit der DDR. Vom Geschmack der Sehnsucht, den diese Eiweiß-Apfel-Melange einst hatte, wissen nur noch Wenige.

Sind die Schwedenbecher ausgelöffelt, beschauen sich die Ausflügler das Rokoko-Schlösschen. Manche halten vor den Tafeln mit der Route des Todesmarsches aus dem KZ Sachsenhausen inne.

Kaum jemand verirrt sich in das Wohnviertel, das bis heute KKW-Siedlung heißt. Dort stehen DDR-Plattenbauten, in denen ab den 1960er Jahren Menschen wohnten, die im nahegelegenen Kernkraftwerk arbeiteten.

Wie Clärchen in den Rhin spucken

Ich wohnte im Marstall mit Ausblick auf den symmetrischen Park. Im Rhin spiegelte sich das Grün der Kastanien. Ein junges Paar mit Kinderwagen ging über die Brücke. Sie hatten es nicht eilig. Drüben blieben sie stehen und setzten das Kind zum Krabbeln ins Gras. Der Mann zündete sich eine Zigarette an, schnippte die Kippe dann in den Fluß.

Es ist ein von der Stiftung Preussische Schlösser und Gärten gepflegter Park. Selbst die Kiesel auf den Wegen haben sich eingefunden in die ästhetische Doktrin. Ich hätte es nie gewagt, in dieses Wasser irgendetwas hineinzuwerfen. Ich traute mich nicht einmal, hineinzuspucken. Claire hatte sich getraut. Claire ist die Hauptfigur aus Kurt Tucholskys Debütroman „Rheinsberg. Bilderbuch für Verliebte“. Claire und Wölfchen überquerten den Rhin auf einem Vorläufer dieser Holzbrücke. Auch für sie flackerte das Frühlingslicht. Auch sie hatten Zeit. Sie waren jung, verliebt und auf Landpartie. Und dann spuckte Claire mit Schwung ins Wasser. Sie spuckte auf den Nationalismus im Wilhelminischen Staat, auf die Militarisierung, das patriarchale, verspießerte Kleinbürgertum. Das war 1912.

Hätte ich es ihr gleich getan, hätte ich auf den aufflammenden Nationalismus und die Brutalisierung in den Köpfen von Leuten gespuckt, die ihr eigener Stumpfsinn so anödet, dass sie ihn mit rassistischem und sexistischem Pech übergießen. Aber ich spuckte nie. Ich war mir sicher, dass ein Parkwächter auftauchen und mich ermahnen würde.

Warten auf Sozialversicherung, Arbeitserlaubnis, das Ende des Krieges

Das Paar mit Kinderwagen wußte davon nichts. Sie waren keine Ausflügler. Sie hatten kein Auge für Farbe und Klarheit des Rhins. Ihr Sinn für Schönheit war im tiefsten Inneren sicher weggeschlossen.

Sie gehörten zu den Menschen, die vor kurzem in die KKW-Siedlung gezogen waren. Oder in eine der Platten in der Mariefredstrasse, die nach der Wende pastellfarben angemalt wurden. Dahinter gibt es Wäscheplätze. Auf solchen Wäscheplätzen habe ich als Kind Socken und Nickis aufgehängt. Eine syrische Autorin, die in Berlin Asyl bekam, schrieb, sie vermisse Wäscheleinen. In Aleppo seien Dächer und Balkone mit flatternder Wäsche geschmückt. In Berlin hänge niemand seine Wäsche draußen auf. Für sie symbolisieren Wäscheleinen einen anderen Ort, für mich eine andere Zeit.

Das junge Paar bewohnte ein Zimmer im Erdgeschoss. Sie waren hier, um zu warten. Auf Sozialversicherung. Auf Krankenversicherung. Auf die Arbeitserlaubnis. Auf das Ende eines ganzen Krieges.

„Fritzchen, aufgehörter Deutscher“

„… ich fühle mich verdammt dazwischen, und da sitzt man auf die Dauer nicht gut“, schrieb Kurt Tucholsky über so ein Warten 1934 aus Schweden. Da hatten ihm die Nazis die deutsche Staatsbürgerschaft schon aberkannt. Schweden hatte ihm noch keinen offiziellen Status zuerkannt. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er als Staatenloser in Hindås an der schwedischen Westküste. Seine Briefe sind unterzeichnet mit „Fritzchen, aufgehörter Deutscher“.

Tucholsky hatte ein schwieriges Verhältnis zu diesem Vorkriegsschweden, wo die Menschen naiv und nazifreundlich waren. „Die Idee der demokratischen Freiheit ist hier im Absterben, hier wie anderswo. Sie wird nicht abgelehnt, sie interessiert nicht mehr. Tipp an, sie fällt.“

Ich wuchs mit einem anderen Schwedenbild auf. Schweden war ein fantastisches Land mit leuchtend roten Häusern, Gerechtigkeit, gesunden Wäldern, ABBA und Lachs; ein Luxus, der meine Vorstellungskraft überstieg. Fähren fuhren über die Ostsee dorthin, von Sassnitz aus greifbar nah, schwimmende Paläste, die das dumpfe Hier mit einem Traum verbanden, mit der anderen, unbekannten Seite der Welt. Die Fähren waren real und irreal zugleich und entzündeten Wahnvorstellungen. Die Menschen malten sich aus, wie es wäre, in einem Werkzeugkasten in den Maschinenraum geschmuggelt oder, an den Unterboden eines Lkw gekettet, als Frachtgut verladen zu werden. Manche übten sich im Weitspucken. Einmal würde die Spucke die Bordwand treffen, und dann würde das Ungeheuerliche geschehen: Die Spucke würde in weniger als fünf Stunden das ersehnte Ufer erreichen; ihre Spucke. Ein Teil ihrer selbst. Sie aber mussten jede dieser Fähren ziehen lassen.

Mit dem Schlauchboot über die verminte Grenze

Als auch die letzte Fähre am Horizont verschwand, war man nicht mehr sicher, dass es das ersehnte Land auch gab. Man sah es vor dem inneren Auge, aber niemand war je dort gewesen. Wem es doch gelungen war, mit einem Schlauchboot lebend die verminte Grenze zu überqueren, war nie zurückgekehrt, um davon zu berichten.

Wie heute an anderen, südlichen Ufern gestanden wird, den Blick sehnsüchtig und voller Angst aufs Meer gerichtet, gehört zu den Dingen, die ich nicht beschreiben kann.

Ein paar Auffälligkeiten:

Das Mittelmeer und die Ostsee sind beides Binnenmeere des Atlantischen Ozeans.

In den Platten von Rheinsberg – der KKW-Siedlung, der Mariefredstraße – warten Syrer darauf, dass man sie reinläßt nach Deutschland, während ich in der DDR darauf wartete, dass man mich rausließ nach Schweden, wo Tucholsky wiederum bis zu seinem Freitod darauf wartete, dass man ihn reinließ, und in Mariefred begraben wurde, der heutigen Partnerstadt Rheinsbergs.

Die demokratische Freiheit interessiert nicht mehr

Ein Satz hängt mir im Kopf von der Idee der demokratischen Freiheit, die im Absterben ist in Deutschland, in Schweden, hier wie anderswo. Die Idee der demokratischen Freiheit wird nicht abgelehnt, sie interessiert nicht mehr. Tipp an, sie fällt.

Aber vielleicht ist es bloß das Flackern des vom Laubwerk gesiebten Lichts, das gespenstische Schatten an die Schädeldecke wirft.

Am heutigen Freitag um 19.30 Uhr liest Antje Rávik Strubel im Thalia-Kino, Rudolf-Breitscheid-Straße 50, Auszüge aus ihrem neuen Roman

Antje Rávik Strubel, geboren 1974 in Potsdam, veröffentlichte 2001 ihr Debüt „Offene Blende“ (2001). Zuletzt erschien 2016 der Episodenroman „In den Wäldern des menschlichen Herzens“. Foto: G. Breloer/dpa

Antje Rávik Strubel

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