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Behinderung spielt hier keine Rolle. Julia Häusermann performt „They don’t care about us“ von Michael Jackson und bringt damit den Saal zum Toben. In der Inszenierung von Choreograph Jérôme Bel zählt nur die Freude an der Musik und an der Bewegung.

© promo

Kultur: Alle Grenzen wegtanzen

Das Theater Hora mit „Disabled Theater“ auf dem „bewegend anders“-Festival in der Schiffbauergasse

Von Sarah Kugler

Es ist die Musik, die die Welt im Innersten zusammenhält. Hat das Goethe nicht so gedichtet? Nein? Hätte er die „Disabled Theater“-Inszenierung von Jérôme Bel zusammen mit dem Theater Hora gesehen, die am gestrigen Freitagmorgen Premiere in der Reithalle des Hans Otto Theaters hatte, hätte er es wahrscheinlich getan. Denn was bei diesem Stück oder besser bei dieser Bühnenperformance, die im im Rahmen von „bewegend anders“, dem 1. Kunstfestival von und für Menschen mit und ohne Behinderung in Potsdam, durch den Einsatz von Musik passiert, ist mehr als nur berührend, mehr als faszinierend, es ist ein Phänomen. Ein Phänomen, das für eine Dreiviertelstunde einen ganzen Theatersaal zusammenwachsen, Publikum sowie Performer verschmelzen und dabei viele zwischenmenschliche Grenzen zusammenbrechen lässt.

Dabei beginnt das Theatererlebnis zunächst etwas unbehaglich: Alle elf Darsteller (Matthias Grandjean, Sara Hess, Tiziana Pagliaro, Remo Beuggert, Gianni Blumer, Damian Bright, Matthias Brücker, Julia Häusermann, Remo Zarantonello, Fabienne Villiger, Nikolai Gralak), die alle ein Handicap haben, treten einzeln auf die Bühne und blicken eine Minute lang still in das Publikum. Eine Gedulsprobe, nicht nur für die Schauspieler, sondern auch für das Publikum. Denn das sind elf Augenpaare, die mal herausfordend blicken, mal schüchtern lächeln oder nervös die Decke anstarren. Elf Minuten Stille, die nicht jeder aushält. Hier und da erklingt ein Flüstern im Zuschauerraum, ab und zu auch ein Kichern, wenn Stille herrscht, ist sie angespannt. Und auch den Darstellern fällt es nicht leicht, sich den Blicken des Publikums auszusetzen, manch einer verlässt nach wenigen Sekunden schon wieder die Bühne, ein anderer starrt wie gebannt auf die Zeiger seiner Armbanduhr. Irgendwann ist es dann geschafft, die Bühne leer.

Bis die Darsteller erneut einzeln vortreten, nun, um sich vorzustellen. Auf Schweizerdeutsch nennen sie ihren Namen, ihr Alter und ihren Beruf, eine Gebärdendolmetscherin übersetzt in deutsche Gebärdensprache, ein zweiter Übersetzter ins Englische. Auch hier sind einige Performer schüchterner als andere, sprechen nur leise ins Mikrofon, während andere die Informationen laut herausbrüllen. Ob das an der individuellen Natur liegt oder gespielt ist, bleibt offen. Klar wird jedoch: Alle dort auf der Bühne verstehen sich als Schauspieler. Nach der Vorstellung folgt die nächste Runde: Alle Darsteller nennen die Art ihrer Behinderung und schon dabei entsteht ein erstes Band zwischen Bühne und Zuschauerraum. Denn wenn etwa Damien Bright sagt, er habe Trisomie 21, was heiße, dass er ein Chromosom mehr habe als „ihr da im Publikum“ oder Remo Beuggert erklärt, dass er ein schlechter Botschafter sei, weil er auf Grund seiner Lernschwäche immer alles wieder vergesse, drängt sich aus dem Zuschauerraum ein fast befreiendes Lachen auf die Bühne, das wiederum mit stolzem Lächeln erwidert wird. Eine erste Schranke ist gefallen, die ersten Berührungsängste haben sich verkleinert, imaginäre Hände wurden geschüttelt. Nach und nach entsteht ein Gefühl der Vertrautheit auf beiden Seiten, merklich fällt die Anspannung von allen Körpern ab. Sowohl die Darsteller als auch die Zuschauer lockern die Gliedmaßen, schütteln die Schultern aus und entspannen die Gesichtszüge etwas. Selbst das bedrückte Raunen, das aufkommt als Julia Häusermann sich unter Tränen für ihre Downsyndromerkrankung entschuldigt, ist eher mitfühlend, als bedauernd. Fast spürbar sind die imaginären Arme, die sich um sie legen.

Und das war erst der Anfang. Denn was jetzt folgt ist das eigentliche Wunder dieses Stückes – gleich im doppelten Sinne. Die Darsteller zeigen selbst einstudierte Choreographien zu eigens ausgesuchten Musiktiteln und was dabei passiert, gleicht schon einer Explosion. Wo einige der Darsteller gerade noch schüchtern auf dem Stuhl saßen, an den Fingern knibbelten oder nervös einen Ball kneteten, sind sie nun vollkommen frei von jeder Scheu. Losgelöst von jeglicher Behinderung und der Körperstatur springen, hüpfen und kreiseln sie über die Bühne. Durch die Musik scheinen sie in sich selbst zu ruhen, alles zu vergessen. Die Stile sind dabei ganz verschieden, reichen musikalisch von tragenden leisen Tönen bis zu lauten Elektrobeats, von poetischen Bewegungen bis hin zu fast komödiantischen Einlagen. Wunderschön sind sie dabei alle. Egal, ob Tiziana Pagliaro zu einer italienischen Ballade ihr Haar majestätisch schwingen lässt, Remo Zarantonello einen wilden Purzelbaum hinlegt oder Fabienne Villiger zu ABBA-Klängen fast schon pantomimisch performt.

Die Freude, die sie dabei ausstrahlen, ist ansteckend, überträgt sich auf das Publikum, das kaum noch auf den Sitzen zu halten ist, das klatscht und lacht. Den Höhepunkt erreicht die musikalische Begegnung, als die vorher so in sich gekehrte Julia Häusermann zu Michael Jacksons „They don’t care about us“ eine Performance hinlegt, die selbst den ehemaligen King of Pop neidisch gemacht hätte. Sicher, der „Moonwalk“ ist nicht perfekt, die Moves nicht ganz so rund, aber das spielt überhaupt keine Rolle. So viel Lebensfreude strahlt ihr Körper aus, so viel Leichtigkeit spiegelt sie wider, dass auch die letzten Schranken fallen. Hier passiert Inklusion auf wunderbarste Weise, durch Musik, durch Tanz, durch pure Extase. „Normal“ ist, was Spaß macht, dann wenn ein Saal voller Menschen eins ist. Wenn das doch nur immer so leicht umzusetzen wäre.

„Disabled Theater“ wieder heute Abend um 19.30 Uhr in der Reithalle A in der Schiffbauergasse. Die Karten kosten 26,30 Euro, ermäßigt 10,90 Euro

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