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Kultur: „Alle, die dabei sind, wachsen“

Seit 2001 spielen in Potsdam Menschen mit und ohne Behinderung zusammen Theater

„Glück“ heißt die Szenenfolge, die das Potsdamer Integrationstheater Teufelssee im September zur Premiere brachte. Darin erzählt ein Spieler, dem das Sprechen große Mühe bereitet, wie sich seine Logopädin dafür einsetzte, dass er eine Schule besuchen darf. Das war ein großes Glück, denn sonst hätte er nie einen Zehnte-Klasse-Abschluss machen können. Viele Jahre später gehört Rolf Gutsche zu den Gründungsmitgliedern des Integrationstheaters.

Am 11. September 2001 – Axel Tröger wird dieses Datum nie vergessen – trafen sich zum ersten Mal Menschen mit und ohne Behinderung im damaligen „Haus der Begegnung“ in der Gutenbergstraße. Tröger hatte in den 90er-Jahren als Schauspielregisseur in Potsdam und Essen gearbeitet, war nach seinem letzten Engagement länger arbeitslos. Das Arbeitsamt hatte ihn in eine AB-Maßnahme vermittelt. Antje Tannert, die Leiterin des „Hauses der Begegnung“, beschloss, ihm die Gründung einer Integrationstheatergruppe zu übertragen.

Obwohl damals die ganze Welt vor dem Fernseher saß, sagt Axel Tröger im Gespräch, kamen zu diesem ersten Treffen mehr als 20 Teilnehmer: Junge und Ältere, Frauen und Männer, Menschen mit sehr unterschiedlichen Biografien und sozialen Hintergründen. Zwei Jahre später brachte die Gruppe ihre erste Premiere unter dem Titel „Bremer Freiheit – Etwas Besseres als den Tod findest Du überall“ heraus. Darin wurde von gesellschaftlich Zurückgestoßenen, die ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen, erzählt.

In diese Arbeit und alle weiteren neun Inszenierungen, die seitdem entstanden, flossen immer eigene Erfahrungen der Teilnehmer ein. Denn die sieht Axel Tröger, der selbst schon lange mit Multipler Sklerose lebt, als Basis seines integrativen Ansatzes an. Zwar gebe es immer ein Motto oder auch eine märchenhafte Vorlage, doch dann gehe es darum, jeden Einzelnen dort abzuholen, wo er gerade steht. Das betrifft alle, die in der Gruppe zusammen spielen.

Das theaterpädagogische Handwerkszeug hat Tröger dabei Schritt für Schritt erlernt. In seinen Augen ist vor allem Sensibilität im Umgang miteinander vonnöten und viele praktische Dinge ergeben sich dann fast wie von selbst. Beispielsweise wird nicht alphabetisierten Teilnehmern mittels eigener Text-CD das Textlernen ermöglicht. Anfangs galt es auch, Barrieren zu überwinden, wenn Teilnehmer mit sogenannter geistiger Behinderung und Mitspieler mit körperlichen Handicaps gemeinsam spielen sollten. In unserer segregierten Gesellschaft treffen beide Gruppen nur selten aufeinander.

Durch das gemeinsame Spiel, das vor allem durch Improvisieren entsteht, konnten Berührungsängste abgebaut werden. „Alle, die dabei sind, wachsen“, so Tröger. Jeder für sich und alle miteinander. Humor hilft dabei. Im geschützten Theaterraum gewinnen alle Erfahrungen, wie man auftritt, und es gibt nicht wenige, die, wenn sie ihre Wirkung beim Auftritt erprobt haben, auch im Alltag lauter für ihre Bedürfnisse eintreten. Für die gemeinsame Theateraufführung müssen alle an einem Strang ziehen und ein Jahr kontinuierlich darauf hinarbeiten. Anfangs mit zwei Probenstunden pro Woche, bald kommen Sonntage hinzu. Während der Endproben sind alle intensiv gefordert.

Die spannendste Herausforderung war vor zwei Jahren eine eigene „Hamlet“-Inszenierung. Eine sprachlich enorm verdichtete Fassung ermöglichte allen Beteiligten, ihre Rolle zu finden und auszufüllen. Das gelang nicht nur in Shakespeares Tragödie, sondern auch in der französischen Komödie „Hase Hase“ oder in der „Nachtigall“-Inszenierung nach Motiven des Andersen-Märchens. „Für den Zuschauer entsteht dabei ein wie von leichter Hand gewirkter Humor“, schrieb ein Kritiker dieser Zeitung, „die Spieler wollen deutlich machen, dass sie durchaus in der Lage sind, ihr Leben zu meistern, wenn sie von den ‚Gesunden‘ nicht immer nur ‚anders‘ behandelt würden.“

Seit 2009 wird das Integrationstheater Teufelssee durch die Aktion Mensch gefördert; davor wurde Tröger über ESF-Mittel finanziert. Dies gelingt seit 13 Jahren, aber es gab und gibt auch immer wieder finanzielle Durststrecken. Und: Nach den ersten fünf Jahren in der Stadtmitte zog das Haus der Begegnung in die Waldstadt. Zwar sind die Probenbedingungen dort optimal, doch es ist schwierig, ein anderes, als das über die Jahre gewachsene Stammpublikum in dieser Randlage zu erreichen.

Die mehr als 30 Aufführungen, die die Theatergruppe bisher gezeigt hat, fanden auch im Bürgerhaus am Schlaatz oder in Potsdamer Schulen statt. „Doch für dasTheater gibt es anscheinend keinen zentralen Ort“, so Tröger, der schon viele kontaktiert hat. Nicht nur manchenorts fehlende Barrierefreiheit oder nicht ausreichende Mittel zur Finanzierung zentraler theatertauglicher Räume sind Probleme, mit denen sich die Theatergruppe auseinandersetzen muss. „Es sieht so aus“, sagt Tröger, „dass es noch eine Weile braucht, bis das Thema Inklusion in der Mitte der Stadt, in der ganzen Gesellschaft angekommen ist.“

Die Integrationstheatergruppe konzipiert gerade ihr nächstes Projekt. „Ubuntu“ ist eine afrikanische Lebensphilosophie. Das Wort selbst bedeutet in etwa Menschlichkeit, Nächstenliebe und Gemeinsinn. Es bezeichnet auch die Erfahrung und das Bewusstsein, dass man selbst Teil eines Ganzen ist. Diesem Thema wird diese Theatergruppe ganz sicher ein eigenes Gepräge geben. „Glück ist für mich Wachstum“, sagt Tröger. Er weiß, dass dazu vor allem Geduld und Empathie nötig sind.

Astrid Priebs-Tröger

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