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Kultur: Abenteuer Potsdam

Barbara Fischers Biografie über den Komponisten und Dirigenten Hans Chemin-Petit beleuchtet Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts

Die Lehrerin Annemarie Buckow, Mitglied des Städtischen Chores Potsdam, verfolgte zu DDR-Zeiten ein großes Ziel: Der Komponist, Dirigent und Hochschullehrer Hans Chemin-Petit sollte von Westberlin in seine Heimatstadt einreisen dürfen, um hier seine Kompositionen selbst dirigierend vorzustellen. Für das Vorhaben gewann Buckow auch Friedrich Meinel, den damaligen Kantor an der Erlöserkirche. Meinel bereitete mit seiner Kantorei für 1967 die Uraufführung der Kantate „Summa vitae“ vor. Doch Chemin-Petit, der selbst bis 1953 in Potsdam gewohnt hatte, wurde die Einreise verweigert, zum bereits dritten Mal.

Chemin-Petits künstlerisches Wirken war geprägt von den Ost-West-Spannungen, die die Politik den Menschen im 20. Jahrhundert in Atem hielt. In der kürzlich erschienenen Biografie über den 1902 geborenen Musiker wird dies in besonderer Weise deutlich. Geschrieben wurde sie von Barbara Fischer, zu der man im Buch leider keine biografische Notiz findet. Man erfährt lediglich, dass sie einige Jahre im Philharmonischen Chor Berlin unter Chemin-Petit sang. Die persönliche Nähe zum Künstler spürt der Leser. Sie beschreibt dessen Leben und Wirken liebevoll und einfühlsam – doch mit zu wenig Distanz. Eine kritische Aufarbeitung findet hier nicht statt.

Dennoch: Barbara Fischer hat ein farbiges Lebensporträt verfasst, für das sie in großer Fleißarbeit private und in Archiven gesammelte Briefe und Aufzeichnungen sichtete und für das 700 Seiten umfassende Buch auswertete. Viele Elemente und Facetten im Leben Chemin-Petits rücken ins Blickfeld und laden ein auf eine Zeitreise, auch in die Potsdamer Musik- und Stadtgeschichte.

Die Biografin beschreibt die große Ambivalenz Chemin-Petits zu Potsdam. Diese blieb, auch wenn er nach dem Mauerbau 1961 die Stadt selten betreten durfte, da Westberlinern der Besuch der DDR kaum gestattet war. Ab 1972 konnten Westberliner dank der Verbesserungen der Besuchsregelungen endlich hinüber in die DDR. Auch nach Potsdam. Chemin-Petit begab sich in seine Geburtsstadt. Er berichtete über seinen Aufenthalt: „Das ,Abenteuer Potsdam’ ist als sehr gelungen zu betrachten, wenn auch manche Eindrücke sehr deprimierend wirkten. () Mangel an Material und Arbeitskräften bestimmt den schlechten Zustand der Stadt. Die Wege in den Parks sind ungepflegt, im Besonderen in Babelsberg. Unser ,Kleines Schloss’ verfällt, nachdem die Zonengrenze in unmittelbare Nähe verlegt worden ist. Die Begegnung mit den Menschen dagegen war mehr als erfreulich.“

Das „Abenteuer Potsdam“ begann für Chemin-Petit schon als Kind. Als Sohn eines Musikers erhielt er „von Mutter und Vater Unterricht im Klavier und Violoncello, aber diese Bemühungen der Eltern scheiterten an meiner völligen Uninteressiertheit“, schrieb er 1944 in einer „Lebensskizze“. Erst der Dresdner Cellist Rudolf Kratina habe eine große Liebe für das Violoncellospiel in ihm geweckt. Das Musikstudium im Cellospiel und Komposition in Berlin folgte, ab 1930 wurde er Dozent für Musiktheorie und Tonsatz an der Akademie für Kirchen- und Schulmusik in Charlottenburg, sechs Jahre später erhielt er eine Professur. Potsdam blieb er treu. Die Familie zog in das „Kleine Schloss“ im Park Babelsberg. Von dort aus gastierte er als Dirigent bei Orchestern und fuhr als künstlerischer Leiter von Chören nach Magdeburg sowie zum Philharmonischen Chor Berlin, aus dem er ein renommiertes Ensemble machte.

Im Domizil im Babelsberger Park entstanden eigene Kompositionen, beispielsweise die „Potsdamer Musik“, die er 1941 im Reichsbahnausbesserungswerk mit den Berliner Philharmonikern zur Uraufführung brachte. Im Jahr darauf war er mit dem damals bereits berühmten Orchester bei den Festlichen Musiktagen im Stadtschlosshof zu erleben. Die künstlerische Gesamtleitung des Musikfestes hatte Karl Landgrebe inne, Kantor an der Friedenskirche, Gymnasiallehrer und Dirigent des Städtischen Chores Potsdam. Landgrebe war aber NSDAP-Mitglied und durfte sich nach 1945 in Potsdam zunächst nicht künstlerisch betätigen.

Barbara Fischer gibt in ihrem Buch einen Einblick in Bemühungen von Mitgliedern des Städtischen Chores, den politisch belasteten Landgrebe in Potsdam wieder hoffähig zu machen. Die Biografin kommentiert: „Die Geschwindigkeit, mit der alte Nazis sich bereits wenige Monate nach der Kapitulation wieder hervorwagten, waren atemberaubend, wie deren ,Gedächtnisverlust' und die Dreistigkeit ihrer Annahme, ein Anrecht auf ihre verlorene Positionen zu haben.“ Der musikalisch begnadete Landgrebe war bald wieder an der Friedenskirche als Organist zu hören und gründete einen neuen Chor, den Madrigalkreis Potsdam.

Hans Chemin-Petit arbeitete bereits in den ersten Wochen nach dem Krieg mit dem Städtischen Chor auf ein erstes Konzert hin. Das Requiem von Mozart erklang im Juni 1945 in der Friedenskirche – als Klage und Trost. Mit dem Chor und dem von Chemin-Petit gegründeten Collegium musicum, einem semi-professionellen Orchester, das bis heute besteht, bewältigte Chemin-Petit so manches Konzertvorhaben. 1953 verabschiedete sich der Komponist, Dirigent und Hochschullehrer von Potsdam als Wohnort. Die Hochschule für Musik in Westberlin forderte von ihrem Professor, dass er die DDR verlassen solle.

Hans Chemin-Petit ging nach Westberlin und wurde dort einer der erfolgreichsten Dirigenten und Komponisten seiner Zeit. Er starb 1981. In Potsdam kamen seine Werke erst nach 1989 wieder des Öfteren zur Aufführung: Kammermusik, Orchester- und Chorwerke. Allerdings zu selten. Zwar liegt jetzt eine verdienstvolle Biografie über Chemin-Petit vor, aber ein wirklich lebendiges Erinnern an ihn gelänge durch eine häufigere Aufführung seiner Musik. Klaus Büstrin

Barbara Fischer: Hans Chemin-Petit – ein Künstler im Spannungsfeld der Politik. Verlag Christoph Dohr Köln 2017, 69 Euro.

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