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20 Jahre Theatersommer Netzeband: Lebensvoll im Hier

Der Theatersommer Netzeband feiert 20. Jubiläum – mit „Peer Gynt“. Immer noch aktuell ist eine ganz besonders zauberhafte Erfindung seines langjährigen Leiters Frank Matthus: Das Synchrontheater.

Kommen ist immer leichter als Gehen. Das ist eins der Themen des Weltenwandlers und Nimmersatts Peer Gynt, diesem Protagonisten Henrik Ibsens, der sich als junger Mann in die Welt stürzt als gehöre sie ihm – und sie als alter Mann nicht verlassen will. Es ist, auf andere Art, auch ein Thema von Frank Matthus. Der Mann, der den Theatersommer Netzeband bis 2014 leitete, um dann den Leitungsposten von seinem Vater Siegfried Matthus in Rheinsberg zu übernehmen und seitdem in Netzeband „nur“ noch Vereinsvorsitzender ist. Er sagt den Satz beim Gespräch vor der diesjährigen Netzebander Jubiläumspremiere des „Peer Gynt“, Regie Andree-Östen Solvik. „Kommen ist leichter als Gehen.“ Frank Matthus spricht damit von sich selbst, von der Schwierigkeit, die Leitung der Festivalperle in den Wäldern hinter Neuruppin loszulassen. Aber auch von seinem Vater, der wiederum die Kammeroper in Rheinsberg 1990 selbst gegründet hatte, und im Hintergrund dort sicher noch immer das Gefüge prägt.

Der Theatersommer Netzeband hat in diesem Jahr allen Grund zum Feiern: Er wird 20. 1996 fand die erste Premiere statt, „Unter dem Milchwald“ von Dylan Thomas in der Regie des 2003 verstorbenen Bühnenbildners Jürgen Heidenreich. Die Inszenierung wurde ein so großer Erfolg, dass sie auch heute noch zum Auftakt gespielt wird. Einige der typischen Netzebander Zutaten waren damals schon versammelt: die Verfremdung und Vergrößerung des Bühnengeschehens durch Puppen, die Aufzeichnung einer Tonspur, sodass die Spieler und die Sprecher nicht die gleichen sind – und die Einladung an Menschen aus der Umgebung, mitzuwirken. Das war und bleibt das Netzebander Rezept gegen die Gefahr elitärer Sommerfrische: Die Menschen vor Ort sollen selbst Teil des Projekts sein, und sich so fühlen.

Die Menschen im Dorf sind Teil des Projekts

Wie um alles in der Welt kam man in den 1990er-Jahren auf das 200-Seelen-Örtchen Netzeband? Die Initialzündung geht auf den Düsseldorfer Landschaftsarchitekten Horst Wagenfeld zurück, der sich Anfang der 1990er in die verfallene klassizistische Netzebander Dorfkirche verguckte. Er entschied, sie zu restaurieren und dem strukturschwachen Ort auf die Beine zu helfen – ein „Modelldorf“ sollte es werden. Im Rahmen dessen sollte auch ein Theaterfestival her, wofür man 1995 Frank Matthus gewann. Matthus war damals Ensemblemitglied im Theater in Brandenburg, hatte erste Open-Air-Regieerfahrungen in Rheinsberg gesammelt – und nahm die Aufgabe gerne an. Netzeband ist nach wie vor der Lebensmittelpunkt des gebürtigen Berliners.

Was zunächst über private Gelder und Selbstausbeutung funktionieren musste, fand bald auch Förderer. Darunter zunächst die Sparkasse Ostprignitz, dann der Landkreis. Heute spielt der Theatersommer Netzeband von den 100 000 bis 120 000 Euro Spielzeitetat 75 000 Euro selbst ein, wie Frank Matthus stolz sagt. 30 Euro kostet eine Karte für Erwachsene in der Abendvorstellung.

Seit 2006 hat Netzeband auch ein künstlerisches Label. Eine ureigene Theaterspezialität, mit ureigenem Namen: Synchrontheater. Frank Matthus erfand Spielweise und Label für seinen „Macbeth“ aus der Not heraus, wie er sagt. Er wollte unter freiem Himmel spielen, aber kein „Schrei- und Krampftheater“. Das Hörerlebnis im Synchrontheater ist vom Intimitätsgrad her tatsächlich eher wie Kino. Atmen, Flüstern, Schluckgeräusche: Alles ist genau ausgearbeitet. Dieses Theater lebt vom intensiven, hochqualitativen Sound, oft mit namhaften Schauspielern – und vom verfremdeten Bühnengeschehen. Anders als Heidenreich verwendete Matthus aber keine Puppen, sondern Masken.

Auch Andree-Östen Solvik hat diese Arbeitsweise für seinen „Peer Gynt“ aufgenommen. Fast alle Spieler tragen überlebensgroße Masken, gebaut von Friedrike Klaue. Wo die Masken sind, da ist Zauber auf der Bühne. Durch agile Körpersprache werden sie lebendig – und bleiben doch auch immer fremd, dem Geschehen entrückt. Die Figuren sind dadurch seltsame, fesselnde Wesen: lebensvoll im Hier, mit dem starren Blick aber immer schon ins Jenseits weisend. Peer Gynt (Tobias Fischer, Stimme: Siemen Rühaak) ist – neben Solveig – der einzige, der in dieser verfremdeten Zwischenwelt ohne Maske unterwegs ist. Das passt, denn der so versponnene wie selbstgewisse Dorfjunge Peer ist ein Fremder in seiner Welt. In seinen Augen ist die Welt ein Märchen, er selbst der Held. Fliegen kann er, behauptet Peer. Und Kaiser wird er mal!

Peer Gynt macht rüber, in den "Westen"

Im Laufe der folgenden gut drei Stunden wird Traumtänzer Peer zum Trollprinz, zum selbsternannten Propheten, zum Sklavenhändler, zum Gelehrten – und zum Mörder. Kaiser jedoch wird er nur im Irrenhaus, kurz vor Schluss. Die Regie macht Peer dazu noch zum Wendehals im politischen Wortsinn: Der Trollkönig, der ihm sein Motto „Sei dir selbst genug!“ mit auf den Lebensweg gibt, fährt einen Hammer-Zirkel-Ährenkranz-Geländewagen und sieht aus wie eine Mischung aus Elvis Presley, Fidel Castro und Egon Krenz. Peer entscheidet sich gegen die Trolle, für die große Welt. Er entkommt „in den Westen“. Dort wird er reich und zum Playboy, findet aber trotzdem nicht, was er sucht. Auch nicht als Prophet im Harem. Die Harem-Szene setzt, wie andere der schwächeren an diesem Abend, auf Masse (ein gutes Dutzend Burka-Frauen) und große Musikeinlagen anstatt auf den Zauber von Masken und Naturbühne. Aber geschenkt. Wenn Peer kurz vor Mitternacht nach Hause segelt, hat nicht nur er eine lange, wundersame und auch wunderbare Reise hinter sich, die die Reise nach Netzeband unbedingt lohnt. Die Stimme des Kapitäns, der Peers Schiff steuert, gehört passenderweise dem, der auch beim Theatersommer weiterhin den Kurs wesentlich mitbestimmen wird: Frank Matthus.

Nächste Aufführungen am 5., 6., 12., 13., 17., 19., 20. und 26. August

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