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Im Gemeindezentrum von Lodz. Fotografin Jordis Antonia Schlösser porträtiert in einer Serie neues jüdisches Leben in Osteuropa: „Die unerwartbare Generation“.

© Jordis Antonia Schlösser/Ostkreuz

100 Ausstellungen in Berlin und Potsdam: Der Europäische Monat der Fotografie feiert die Vielfalt

Asylbewerber im Schwarzwald, Hexen in Rumänien und jüdische Communities in der Ukraine: Die neunte Ausgabe der Foto-Biennale führt quer durch ganz Europa.

Warten, bis die Hose brennt. Das ist schon ein etwas absurdes Experiment, fasst aber bildhaft zusammen, auf welche Ideen einen Ennui und Übermut gleichermaßen bringen können. Auf dem Foto ahnt man Jungenbeine, sieht helle Shorts – und ein Brennglas.

Die Sonne heizt nicht nur vom Himmel, sie hat bereits den Stoff erfasst. Kleine Flammen züngeln am Rand des Glases, doch der anonyme Porträtierte springt nicht vom Stuhl. Noch nicht. Vielleicht, weil Marie Tomanova ihn gerade mit der Kamera ihres Smartphones aufnimmt.

Eine dumme Mutprobe als kleinformatiges Motiv in einer Serie von Collagen. Es fällt kaum auf und sagt doch viel über die Wurzeln der jungen Fotografin, die im Rahmen des European Month of Photography (EMOP) im Tschechischen Zentrum ausstellt.

„Live For The Weather“ heißt ihre Gegenüberstellung von gelangweilten Jugendlichen aus dem ländliche Mähren und aus New York. Eine Konfrontation der Stile, Gefühle und Ideen, die ganz bewusst nicht aufgeht. Wer hier nach einer konzeptionellen Logik sucht, der läuft ins Leere.

Allein die persönliche Biografie der Künstlerin verbindet Tschechien mit der amerikanischen Metropole: Tomanova zog nach dem Studium 2011 an die Ostküste der Vereinigten Staaten, fühlte sich dort zeitweise heimatlos und kehrte 2018 nach Hause zurück – um festzustellen, dass sie den Ort ihrer Kindheit und Jugend hoffnungslos verklärt hatte. Auch er bot ihr keine Orientierung mehr.

Wie schaue ich auf die Welt?

Aus diesem Zwiespalt resultiert ihre aktuelle Position. Irgendwo dazwischen wird Tomaova zur Chronistin all jener Leben, die ihr fremd (geworden) sind. Beim Fotografieren fragt sie die Leute aus, nähert sich ihnen vorbehaltlos neugierig. Ihre Fotografien sind Dokumente und dienen gleichzeitig der Selbstbefragung: Wie schaue ich auf die Welt?

Besser lässt sich kaum beschreiben, was der Europäische Monat der Fotografie als Biennale seit immerhin neun Ausgaben verhandelt. Wo man während der kommenden Wochen in Berlin und Potsdam hinschaut – egal ob Institution wie das Museum für Fotografie und C/O Berlin, Galerien oder freie Projekträume –, formulieren über 100 Ausstellungen einen ähnlichen Anspruch.

[European Month of Photography, 1.-31.Oktober, www.emop-berlin.eu]

Respektvoll schaffen sie Platz für die Perspektiven der FotografInnen. Gleichzeitig fordern sie die Reaktion des Betrachters ein, der sich angezogen, berührt, in Erstaunen versetzt oder zum Widerspruch provoziert fühlen soll.

Wer möchte Norwegen schon so trist sehen wie auf den Bildern von Espen Eichhöfer? Holzhäuser mit blätterndem Putz, von Folie bedeckte Felder und einen Mann, dem das Holzfällerhemd in Fetzen von den Armen hängt.

Von Asylbewerbern im Schwarzwald bis zur mächtigsten Hexe Rumäniens

Ein Land voller Gletscher und Fjorde stellt man sich anders vor, doch auch Eichhöfers fotografische Reise zum Kern seiner familiären Identität spiegelt die Wirklichkeit. „Kontinent – Auf der Suche nach Europa“ heißt die Ausstellung in der Akademie der Künste am Pariser Platz, in der seine Bilder der Reihe „Papa, Gerd und der Nordmann“ (2017-2020) hängen.

Zusammen mit weiteren 21 Positionen der Berliner Fotografenagentur Ostkreuz, deren Thema die „europäische Gegenwart“ ist.

„Kontinent“ zählt zu den zentralen Projekten des EMOP; genau wie „Masculinities: Liberation through Photography“ im Gropius Bau oder „America 1970s/80s“ in der Helmut Newton Stiftung.

Der Unterschied: Die Ostkreuz-Schau wurde gemeinsam vom Kollektiv für das aktuelle 30-jährige Jubiläum der Agentur konzipiert. Jeder Fotograf brach irgendwohin mit dem Fokus „Europa“ auf. Doch was Harald Hauswald, Ute Mahler, Annette Hauschild oder Jörg Brüggemann daraus gemacht haben, fällt so unterschiedlich aus wie ihre fotografischen Handschriften und Interessen.

Ski heil in der Schweiz. Emanuel Gyger und Arnold Klopfenstein hielten ab 1920 Skifahrer fest. Zu sehen in der Sammlung von Daniel Müller-Jentsch.
Ski heil in der Schweiz. Emanuel Gyger und Arnold Klopfenstein hielten ab 1920 Skifahrer fest. Zu sehen in der Sammlung von Daniel Müller-Jentsch.

© Gyger/Klopfenstein

Sibylle Fendt reiste drei Jahr lang immer wieder in den Schwarzwald, um Geflüchtete in einer abgelegenen Unterkunft zu porträtieren. Dort warten junge Männer auf die Bearbeitung ihres Asylantrags – und die Resignation, das erzwungene Nichtstun vermittelt sich so eindringlich in den Porträts der Serie „Holzbachtal, nothing, nothing“, dass man mit ihnen zu leiden anfängt.

Johanna-Maria Fritz begleitete die mächtigste Hexe Rumäniens, Tobias Kruse besuchte Jaywick in der Grafschaft Essex: Eine Stadt, die vom Badeort an der Nordsee zur ärmsten Region Großbritanniens abstieg. Stephanie Steinkopf porträtiert eine finnische Unternehmerin mit Burnout, Jordis Antonia Schlösser zeigt sensibel das neue jüdische Selbstbewusstsein in Polen und der Ukraine auf.

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Mit jedem Raum in der Akademie erschließt sich eine Facette – von Europa in seiner ganzen vertrauten Disparatheit ebenso wie von den Arbeitsweisen der Ostkreuz-Fotografen. Diese Vielfalt sorgt für den Charme und Reiz des EMOP, der zeigt, wie wenig sich das Medium selbst im Zeitalter seiner ununterbrochenen Reproduzierbarbeit erledigt hat.

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Überraschungen sind garantiert, wenn etwa im Projektraum F3 vier blinde FotografInnen die Ergebnisse ihrer Arbeit zeigen: Bilder, in denen sie mit Unterstützung von Assistenten ästhetische Ideen für andere sichtbar machen. Es gibt Künstler wie Hein Gravenhorst (Auktionshaus Lempertz) und Johanna Terhechte (Künstlerhaus Bethanien), die malerisch oder konzeptuell mit Fotografie arbeiten.

Der private Sammler Daniel Müller-Jentsch hat eine Wohnung am Winterfeldplatz angemietet und stellt dort frühe Skifotografie der Schweizer Pioniere Emanuel Gyger und Arnold Klopfenstein aus, während im Friedrichstadtpalast Porträts der Tänzer hängen, die Sven Marquardt schon 2019 im Morgengrauen eines Tages gemacht hat. Im Dunklen Foyer der stillgestellten Vergnügungsmaschine zaubern sie einen magischen Ort.

So vielen Strömungen wie möglich wird Platz geboten

Man muss weder alles sehen noch mögen, der Fokus der Veranstaltung liegt auf der Vielfalt. Vorbereitend wird juriert und doch im selben Moment versucht, so vielen Strömungen wie möglich Platz zu geben. Wie gut es dennoch ist, wenn die Flut der Bilder kuratorisch gebändigt wird, zeigt die 2016 gegründete Initiative „The Independent Photographer“ im Kreuzberger Raum CLB Berlin.

Auch hier ermöglicht ein open call, dass sich zwölfmal im Jahr jeder Fotograf mit Bildern zu thematischen Wettbewerben melden kann. Dann wird ausgesucht, Finalisten werden gekürt, am Ende steht ein Preisträger.

Parallel gibt es ein Online-Magazin und Ausstellungen wie die aktuelle mit erstklassigen Motiven, die das globale Geschehen spiegeln. Vor allem aber fischt das junge Team jene Positionen heraus, die es für künftig relevant hält. „Wenn du auf Instagram hundert Follower hast, sieht dich trotzdem kein Mensch“, sagt Fotodirektor Antoine Jonquière. In den Räumen von CLB Berlin sind 100 Besucher ganz schön viel.

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