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Farina Kerekes sitzt am Supermarkt an der Kasse. Abstand zu Kunden kann sie nicht halten.

© Farina Kerekes/privat

Kassiererin über den Corona-Lockdown: „Heute war es so schlimm wie nie zuvor!“

Abstand halten? Für Einzelhandelskauffrau Farina Kerekes keine Option. Statt Dank für ihren Job zu bekommen, wird sie von Kunden beschimpft. Ein Protokoll.

Von Julia Prosinger

Farina Kerekes, 30, ist Einzelhandelskauffrau in einem Supermarkt im Ruhrgebiet. Auf Twitter hat sie am Wochenende ihrem Ärger über Kunden Luft gemacht, die in der Corona-Krise alle Manieren vergessen. Im Tagesspiegel spricht sie nun ausführlich über ihre Erfahrungen:

„Heute war es so schlimm wie nie zuvor. Bei uns im Ruhrgebiet haben die Schulen geschlossen und da sind die Leute völlig ausgerastet. Als wir um 8.30 Uhr unseren Supermarkt öffneten, standen die Menschen schon Schlange. Montag und Monatsmitte, das gibt es sonst nie!

"Total crazy"

Das Toilettenpapier rissen sie uns nur so von den Palletten - inklusive Rangeleien untereinander - und die gerade mal zwölf kleinen Packungen Desinfektionsmittel, die wir geliefert bekommen haben, waren nach Minuten ausverkauft, bevor wir überhaupt die Chance hatten, jemandem den Weg dorthin zu weisen. Total crazy.

Ich arbeite seit zwölf Jahren als Einzelhandelskauffrau, wo genau, möchte ich nicht sagen. In unseren Laden kommen täglich etwa 1000 Kunden. Meistens bin ich auf der Fläche, räume Ware aus und sortiere Regale, oft sitze ich auch an der Kasse. So etwas wie in den vergangenen zwei Wochen habe ich noch nie erlebt.

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"Anfangs erklärte ich höflich die Lieferengpässe"

Anfangs merkte ich nur, dass Dinge ausverkauft waren, die sonst nie ausverkauft sind: Klopapier, Mehl, Babyfeuchttücher, Einweghandschuhe, Nudeln. Und natürlich: Desinfektionsmittel. Als mich die Kunden letzte Woche wieder und wieder danach fragten, erklärte ich noch höflich die Lieferengpässe. Inzwischen sage nur noch ganz ruhig: Nein.

"Sonst wird es ein Teufelskreis"

Ich kann nicht hunderte Male am Tag dieselbe Frage beantworten. Wenn ich einen Wunsch frei hätte: Leute, bitte hört auf zu hamstern! Es ist genug Ware da, wenn jeder für seinen normalen Bedarf einkauft. Sonst wird es ein Teufelskreis.

[Alles zur Coronavirus-Situation in Berlin erfahren Sie in unserem Tagesspiegel-Newsblog an dieser Stelle]

"Ich muss doch Erwachsenen nicht beibringen, wie man teilt!"

Eigentlich liebe ich meinen Beruf. Obwohl es mich schon immer traurig gemacht hat, dass viele weder „Hallo“ noch „Danke“ oder „Bitte“ sagen. Aber seit Kurzem hat es eine neue Dimension: Wenn ich den Kunden erkläre, dass sie bestimmte Waren nur in handelsüblichen Mengen kaufen dürfen, fangen sie an, mich zu beschimpfen.

[Wo bleibt die Gehaltserhöhung für Kassiererinnen? Die wichtigsten Nachrichten aus Politik und Wirtschaft ab 6 Uhr morgens in unserer Tagesspiegel Morgenlage.]

Es sei lächerlich oder unmöglich oder schlimmeres ... Das sind Erwachsene. Ich muss denen doch nicht beibringen, wie man teilt!

Ich finde es in Ordnung, dass ich jetzt Überstunden machen muss und arbeite, wenn andere frei haben. So geht es Feuerwehrleuten und Krankenpflegern schließlich immer. Aber nur, wenn die Kunden auch mitspielen.

"Wenn ich an der Kasse sitze, kann ich nicht ausweichen"

Ich bin darauf angewiesen, dass ihr euch solidarisch verhaltet! Wenn ich an der Kasse sitze, kann ich nicht ausweichen - ich kann maximal einen halben Meter Abstand nehmen. Es gibt immer noch genug Leute, die nicht in die Armbeute husten, keinerlei Etikette beachten.

Hintergrund über das Coronavirus:

Komisch, sie werden wütend darüber, dass es kein Desinfektionsmittel gibt, reichen mir aber im nächsten Augenblick ihre nackte Hand mit dem Geldschein, in die sie gerade noch geniest haben. Ich fand das schon früher schwierig, aber jetzt erlaube ich mir, die Leute darauf aufmerksam zu machen.

"Würde ich immer desinfizieren, wäre ich zu langsam"

Inzwischen muss man es doch einfach mal gecheckt haben! Unter unseren Kassen steht zwar Desinfektionsmittel, aber wenn ich das nach jedem Kunden auftragen würde, wäre ich zu langsam. Meine Hände sind außerdem schon viel zu trocken. Ich habe keine Angst, mich anzustecken, ich bin jung, habe ein gutes Immunsystem, ich schaffe das.

Aber ich mache mir Sorgen um meine älteren Kollegen, denen auch die Überstunden zusetzen. Wobei sogar ich etwas merke: Neuerdings habe ich wegen der vielen Extraschichten an der Kasse und dem gehetzten Einräumen der Waren Rückenschmerzen.

"Auf einmal redet die Politik von systemrelevant"

Es ist schlimmer als in der Phase vor Weihnachten. Zu dem Stress kommt noch die beklemmende Stimmung. Abends kann ich nur noch auf der Couch liegen. Klar denke ich dann manchmal: Ich würde auch gern in Quarantäne sein. Aber meine Arbeit ist ja so wichtig. Auf einmal redet die Politik sogar von „systemrelevant“.

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Ich fände gut, wenn sich das auch mal in der Entlohnung widerspiegeln würde oder in den Arbeitsbedingungen. Das wäre eine angemessene Form der Wertschätzung! Ich habe Glück und werde nach Tarif bezahlt, aber viele Kollegen bekommen nur Mindestlohn.

"Masken sind auch für uns ausverkauft"

Meinen Ärger über die Kunden habe ich am Sonntag auf Twitter gestellt - inzwischen haben sich das eine Million Leute angesehen. Ein paar Leute haben tatsächlich kommentiert, ich solle dann halt Mundschutz tragen und Plastikhandschuhe. Sehr witzig: Masken sind auch für uns ausverkauft, werden woanders viel dringender gebraucht und mit den Handschuhen kann ich unsere Touchpads nicht bedienen.

Natürlich gibt es auch Kunden, die uns danken, dafür, dass wir an vorderster Front die Stellung halten. Heute kam eine Ruhrpottomma und wunderte sich: „Haben die denn alle so viel zu scheißen?“. Schön, wenn es andere für uns sagen. Sowas muntert mich auf. Und zum Glück habe ich morgen die Spätschicht.“
(Hinweis: Dieser Artikel wurde am 16.3. publiziert)

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