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Rolle rückwärts. Nach sieben Jahren kehrte Jörg Hartmann ans Theater zurück. „Eine andere Intensität.“

© Kai-Uwe Heinrich

Ein Treffen in Potsdam: TV-Star Jörg Hartmann und die Sehnsucht nach dem Clown

Richter, Rechtsanwalt, Kommissar, Stasi-Major: immer Respektpersonen, immer Charakterrollen. Dabei steckt in dem Potsdamer Jörg Hartmann ein echter Entertainer, dem aber etwas bange ist vor der Landtagswahl.

Wenn die nicht zu uns kommen, gehen wir halt zu denen, sagte sich Jörg Hartmann mit seinem Kommilitonen, und sie machten sich auf in die Hauptstadt. Es ist 1993, der junge Jörg Hartmann besucht die Schauspielschule in Stuttgart, aber die Casting-Agenten und Intendanten der großen Bühnen halten lieber an der Otto-Falckenberg-Schule in München Ausschau nach jungen Talenten oder bei „Ernst Busch“ in Berlin. Hartmann träumt von der Schaubühne, dem Theater von Peter Stein und Edith Clever, Angela Winkler und Otto Sander. Also umkreisen sie das Theater am Lehniner Platz – und wer sitzt da im „Ciao“, dem Italiener, wo die Regisseure und Kollegen verkehren? Andrea Breth, die Schaubühnen-Chefin.

Treffen mit der Schaubühnen-Chefin

Jörg Hartmann, schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans, senkt an dieser Stelle der Erzählung den Kopf und die Stimme, dehnt die Vokale, zieht an einer imaginären Zigarette. Für einen Augenblick verwandelt er sich in die imposante Figur der Breth, um gleich wieder den nervösen Studenten zu mimen.

„Frau Breth, wir sind Studenten aus Stuttgart, wir würden gerne vorsprechen.“ Sagt die Breth mit ihrer tiefen Stimme: „Passt mal auf, die Herrschaften, mit denen ich hier sitze, sind meine Eltern, und die sehe ich seeehr selten. Die gehen gleich in die Vorstellung. Seid um acht an der Pforte.“

Wenn er Fragen beantwortet, erzählt Jörg Hartmann Geschichten. Und wenn er erzählt, spielt er: die Erinnerungen, die anderen, die eigene Gefühls-Gemengelage. Ein-Mann-Theater, zwei Stunden lang an diesem Morgen am Ecktisch neben der Küche im „Café Heider“ in Potsdam, gleich gegenüber dem Nauener Tor.

Goldene Kamera für die Rolle als Stasi-Generalmajor

Jörg Hartmann, der depressive „Tatort“-Kommissar, der zerknautschte ParkaTräger, der im Affekt Möbel zertrümmert und immer die Taten nachspielt, so wie jetzt sein Leben. Hauptkommissar Peter Faber, Hände in den Taschen, mürrische Repliken, beißender Humor. Eine „Mischung aus Hofnarr und Psychopath“, schrieb die „FAS“.

Für seine zweite berühmte Fernsehrolle in der Serie „Weissensee“, hat er 2016 die Goldene Kamera bekommen. Die Jury nannte seinen fiesen Stasi-Generalmajor Falk Kupfer „ein abgründiges Ungeheuer, voller Kaltschnäuzigkeit und doch unwiderstehlich anziehend“. Hartmann hat ihn nie verraten oder sich spielend von ihm distanziert. Nein, er hat ihm den Glauben an den Sozialismus geglaubt und ihn verteidigt, ohne dessen Brutalität zu beschönigen, den Verrat an der Familie.

Hier in Potsdam lebt er, mit Partnerin und Kindern. Er mag historische Architektur, hat sich beim Spendensammeln für die Restaurierung der Friedenskirche engagiert – nicht, dass er die Moderne nicht schätzt, im Februar war er als der Architekt Martin Gropius im ARD-Bauhaus-Film zu sehen und hat sich nach dem Dreh endlich den Wassily-Stuhl von Marcel Breuer gekauft! Gerade noch Friedenskirche, jetzt Breuer: Jörg Hartmann ist ein Assoziations-Virtuose.

Ein Treffen wie ein Impro-Theater

Auf jede Bemerkung reagiert er blitzschnell, Hartmann holt aus, wechselt mühelos Dialekte und Idiome, Tonart und Vokabular, Tiefsinn und Flachsinn.

Wer Jörg Hartmann gegenübersitzt, erlebt kurzweiliges Impro-Theater, wird unweigerlich zum Publikum.

Die Kamera, sagt er, findet er in gewisser Weise sexy. „Ich mag es, zu wissen, dass sie alles sieht und der Ton alles hört.“ Die Kamera provoziert ihn dazu, nicht bloß zu behaupten. Sie kommt ihm gefährlich nahe, der Zuschauer sieht jede Pore.

Das ist entscheidend: Dass er sich selber glaubt, was er spielt.

Beim letzten „Tatort“ zum Beispiel, „Inferno“, als Kommissar Faber den Mörder aufsucht, einen Psychologen und Klinik-Guru, in der irren Hoffnung, ausgerechnet der könne ihn heilen von seiner Trauer, seinem Schmerz. Dann bricht er wieder zusammen, im Close-up. „Da ist man nackt, und die anderen gucken zu, es ist vielleicht schon spät, das Team will nach Hause und es bleibt keine Zeit bei nur 22 Drehtagen. Aber man hat ja einen Anspruch.“ Es sei das Paradox seines Berufs: „Es muss so aussehen, als ob wir nix gestalten, dabei gestalten wir immer.“

Für die Tochter zum Fernsehen

Im Juni ist er 50 geworden, schon mit 30 hatte er es tatsächlich an die Schaubühne geschafft. Wenn auch auf Umwegen, von denen später noch die Rede sein soll. Zehn Jahre gehörte er fest zum Ensemble, bis ab 2009 der Film ins Zentrum rückte, er wollte auch mehr Zeit für die Tochter aus erster Ehe, die heute 16 ist.

„Beim Fernsehen muss man pfannenfertig ans Set kommen, was den Vorteil hat, dass ich eigenständiger bin. Beim Theater probt man wochenlang und wird nie fertig damit.“ Es ist eine andere Art der Intensität. Ohne Ensemble fehlte ihm was.

Andocken als theatraler Vorgang

Seit 2016 ist er also wieder dabei, feierte Triumphe als „Professor Bernhardi“, als jovialer, leise ironischer Arzt, der sich in Sicherheit wähnt und dessen Renommee ihn am Ende nicht schützt vor Ausgrenzung und antisemitischem Ressentiment. Bei den Salzburger Festspielen stand er Ende Juli wieder auf der Bühne, wieder unter Regie von Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier: als namenloser Lehrer in Ödon von Horvaths Nazidämmerung-Stück „Jugend ohne Gott“. Auch das ein Stück über die Verrohung einer Gesellschaft. Anfang September ist Premiere in Berlin.

Wie kommt das Böse in die Welt? In „Jugend ohne Gott“ sitzt Hartmann in Alltagskleidung im Parkett, geht auf die Bühne und liest den Text eines Hitler-Verehrers vor, einen Liebesbrief an den Führer. „Die Leute sollen ruhig denken: Was macht der ,Tatort’-Kommissar da, ist der AfDler geworden? Fängt das Stück jetzt schon an? Hallo, kann ich ein bisschen mehr Licht auf der Bühne haben? Was verdanke ich Adolf Hitler? Diese Frage ist leicht mit einem Wort zu beantworten. Alles.“

Hartmann spielt auch diese Szene im Café vor, die allmähliche Verwandlung des Schauspielers in eine Figur. Sie verkleiden ihn auf offener Bühne, die Lesung kippt ins Szenische, die Szene kippt ins Epische zurück, der Zuschauer soll unmerklich hineinrutschen in diese totalitaristische Welt. Damals ist nicht Heute, aber es ist auch nicht ganz anders. Das Andocken als theatraler Vorgang, so wollten sie es: Ostermeier, der Dramaturg Florian Borchmeyer und Hartmann.

Jörg Hartmann macht das gern, am Stück mitarbeiten und am Dialog, manche „Tatort“-Sätze stammen von ihm. Er ist ja kein ausführendes Organ! Als Regisseur Friedemann Fromm an der vierten Staffel „Weissensee“ schrieb, kamen sie schnell überein, dass Stasi-Major Kupfer darin das Zeitliche segnen muss. Nach der Schussverletzung, dem Rollstuhl, der neuen Liebe – die Szene, in der Hartmann das Gehen übt, sich vom Barren aus freihändig zu Jördis Triebel hinschiebt und es nicht schafft, verdichtet seine Figur in einen einzigen Moment: den Läuterungsversuch eines Täters, das Scheitern einer Existenz.

Über die Frage, ob sie das N-Wort bei Horvath durch „Afrikaner“ ersetzen, haben sie gestritten. Über Rassismus und Sprachverbote, Identitätspolitik und Bildersturm.

Sorge vor der Landtagswahl

Was Horvaths Lehrer umtreibt, treibt auch Jörg Hartmann um: die Frage, wann einer Haltung zeigt und wann nicht. Der Lehrer ist Humanist und Opportunist, er macht sich schuldig, ein Held ist er nicht. „Wer von uns ist bitte ein Held?“, fragt Hartmann. Ihm bangt vor der Brandenburg-Wahl, vor der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft, den Gräben zwischen Gruppen, Milieus und seit MeToo auch zwischen Männern und Frauen. Lauter Konflikte, denen er sich stellt, auch in seinem Beruf.

Am Theater beschäftigt ihn auch die Ambivalenz von Anspruch und Druck, der Macht und des Missbrauchs. Silvia Medina, die Mutter seiner jüngeren Kinder, ist ebenfalls Schauspielerin. Er hat nachgefragt seit MeToo, auch bei Kolleginnen, ist sensibler geworden und sagt schon mal „Stopp“, wenn bei der Probe ein falscher, verletzender Ton angeschlagen wird. „Auch wenn es nichts Feudaleres gibt als das Theater und Konsensgelaber bis zur Premiere wenig bringt: Es geht doch nicht, dass wir auf der Bühne totalitäre Strukturen verhandeln oder Dinge wie Rassismus oder Sexismus und gleichzeitig Leute mit Macht ihre Positionen ausnutzen!“

Ein Pils mit Dortmunds Oberbürgermeister

Ruhrpott, Westfalen, da kommt er her. Er mag die Gegend bis heute, die Leute, weil sie gesellig, energisch und laut sind und der Witz nicht so aggressiv rüberkommt wie in Berlin. In Hagen wurde er als Sohn eines Drehers und einer Verkäuferin geboren, in Herdecke ging er zur Schule. Der Dortmunder Oberbürgermeister hat seine Absetzung als Tatort-Kommissar gefordert, Anfang des Jahres war das, von wegen Image-Schädigung für die Stadt. Hartmann ging in die Offensive und bot an, mit ihm mal ein lecker Pilsken trinken zu gehen, der Termin steht noch aus.

Von "Tom & Jerry" abgeguckt

Als Kind sei er eher schüchtern gewesen. Das habe sich auf der Ostsee-Freizeit mit den Eltern und der Jugendhandballer-Truppe des Vaters geändert. Der kleine Jörg zeichnete wie wild, schaute den anderen beim Leben zu. Eines Abends gab’s Party, und plötzlich schnappte sich der Junge, er war sieben oder acht, den Zwei-Meter-Kerl aus der A-Jugend und fing an, mit ihm zu tanzen.

Hartmann weiß bis heute nicht, warum. Die Arme waagerecht ausgestreckt, zwei Mal rechts, zwei Mal links, leichtes Schulterzucken, nur diese kleine verschmitzte Bewegung als Endlos-Loop. Er hatte das wohl in der „Tom & Jerry“-Show gesehen, im Zwischenfilm mit dem tanzenden Zeichentrick-Gespenst. Riesenerfolg.

Fortan war Jörg der Komiker, in der Theater-AG, beim Kabarett am Gymnasium, im Laienensemble am Stiftmarkttheater. Bei der Premiere von Thornton Wilders „Unsere kleine Stadt“ kurz nach dem Abi beschloss er, doch nicht Biologie zu studieren und die Welt zu retten, sondern sich an Schauspielschulen zu bewerben. Der Spieltrieb war größer.

Er kann auch die Knallcharge

Was ihm in Stuttgart eine Rüge des Direktors einbrachte: Jörg, du bist immer so äußerlich. „Das hat mich gewurmt, ich dachte, dem zeig ich’s. Es hat geklappt, jetzt kriege ich immer die Charakterrollen und keiner glaubt mir, dass ich auch die Knallcharge kann.“ Körperarbeit, Klamauk.

Rechtsanwalt, Richter, Kommissar, Major, lauter Respektspersonen, wo bleibt da der Clown? Die Sehnsucht ist immer da, sagt Hartmann und markiert kurz hechelnd die Rampensau. Schauspieler schaffen Identitäten, sagt er. Aber nichtidentische, ambivalente Identitäten. Die eines Lehrers, der es gut meint und Menschen in den Tod treibt. Eines Melancholikers, der gelegentlich ausrastet. Eines Stasi-Täters, der Mitleid erregt.

Gerade Thomas Ostermeier, der den Ensemble-Neuling eigentlich loswerden wollte, als er Intendant der Schaubühne wurde, weil er seine eigenen Leute von der Baracke des Deutschen Theaters mitbrachte, und dann Hartmanns wichtigster Regisseur werden sollte – gerade Ostermeier gilt ja als Perfektionist. Als einer, der das Team gerne mal triezt. Hartmann hält dagegen, „wenn er mit dem Proben nicht aufhört, obwohl keiner mehr kann. Oder wenn er einen Satz auf ganz bestimmte Weise hören und auf die Bühne springen will. Dann sage ich, bitte Thomas, bleib unten.“

Hartmann, der Charakterdarsteller, der in seiner Freizeit Francis Fukuyamas „Identität“ liest und wegen des N-Worts auch Reni Eddo-Lodges „Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche“, das ist die eine Seite. Die andere ist der Entertainer. Gerade gibt er Ostermeiers Anruf von damals als Miniatur-Farce zum Besten, mit leichtem Näseln. „Äh ja, wie geht’s, willste nicht doch bleiben, ich hätt’ jetzt auch ’ne Rolle.“ Eine lakonische, von Wertschätzung gefärbte Karikatur.

„Mach immer nur, was du verantworten kannst.“

Und wie ging es eigentlich weiter mit Andrea Breth und den Greenhorns aus Stuttgart?

Die Antwort verwandelt Hartmann in eine Boulevardkomödie mit perfektem Timing. Breth, die den Schlüssel für den Probenraum holt, Breth wieder mit Zigarette: Wenn ihr schlecht seid, schmeiß ich euch raus. Sie arbeiten zweieinhalb Stunden, es gibt Hausaufgaben. „Macht mal den ,Clavigo’. Kennt ihr die Inszenierung von Kortner, mit Thomas Holtzmann und Rolf Boysen?“ Zurück in Stuttgart, treibt der Kumpel einen Mitschnitt auf, nicht leicht in Vor-Internet-Zeiten. Und sie finden, Holtzmann muss mit ihnen proben. Oder Boysen. Also auf nach München zu den Kammerspielen.

Folgen ein Einakter mit Reibeisen-Bass („Ah, die Breth! Ruft mal den Rolf an, ich muss nach Hamburg.“) und die Telefonzellen-Szene. Hartmann in der Zelle, Boysen am anderen Ende, mit dem Rat: „Mach immer nur, was du verantworten kannst.“

Letzter Akt, retour in Berlin. Hartmann, erst in stummer Rolle, greift sich ein Mettbrötchen, kapriziös, statt einfach nur reinzubeißen. Riesenfehler. Bei „Clavigo“ kommt Ulrich Matthes dazu. Breth: „Ich sehe keine Biografie, Ulli, siehst du da eine Biografie?“ Jetzt spielt Hartmann die beiden im Wechsel, die Chefin und Matthes. Für die Studenten war es nicht komisch, es war das Todesurteil.

So kam es, dass Jörg Hartmann erstmal für zwei Jahre nach Meiningen ging, 1994. Ein Wessi im Osten. Seine erste Frau stammt aus Leipzig, bis heute lebt Hartmann im Osten und arbeitet am Kurfürstendamm. Noch eine Ambivalenz.

Einstand zur falschen Zeit

Hartmanns Einstand an der Schaubühne war dann: eine Komödie. Zwar floppte Biljana Srbljanovics „Supermarket“, weil das Stück kurz nach 9/11 herauskam und den Leuten das Lachen vergangen war. Aber dann folgten „Nora“ mit Anne Tismer und „Hedda Gabler“ mit Katharina Schüttler, der Rest ist Theatergeschichte. 280 Mal stand Jörg Hartmann als Rechtsanwalt Torwald Helmer in „Nora“ auf der Bühne.

Und was macht er nach 25 Berufsjahren vor der Vorstellung, hat er ein Ritual? Na ja, die Kinder müssen aus der Kita geholt werden, dann ist Bambule zu Hause, Hilfe, ich muss los, über die Avus zur Schaubühne, „das ist mein Tunnel, die Fahrt dahin.“ Kurz auf die Bühne, Einsprechen, den ganzen Körper wach klopfen. „Das klingt jetzt esoterisch, ist es aber nicht, ich segne die Bühne. Ich sage drei Mal Ja, für die Bühne, für die Kollegen, für mich.“

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