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Der deutsche Torwart Hans Tilkowski ist beim Schuss von Geoff Hurst geschlagen. Von der Unterkante der Latte prallt der Ball aber vor der Linie auf den Rasen.

© dpa

Die größten Spiele zwischen Deutschland und England: „We call it a Klassiker“

Kein Nationen-Duell ist im Fußball historisch und emotional so aufgeladen wie Deutschland gegen England. Was macht diese Spiele zu etwas Besonderem?

Es war und ist besonders die britische Presse, die die deutsche Nationalelf seit Jahrzehnten als die „German Panzer“ betitelt – und die Spiele zwischen beiden Ländern in Kriegskategorien erhebt. Wenig herausragende Einzelkönner, aber Kampfkraft und Fleiß, der DFB versucht seit einigen Jahren den Begriff „Die Mannschaft“ dagegen zu etablieren. Aber auch jetzt bei der Europameisterschaft tauchten die „German Panzer“ wieder auf. So schrieb die Zeitung „A Bola“ nach dem 2:4 Portugals gegen Deutschland: „Die deutschen Panzer zerstören den zerbrechlichen portugiesischen Abwehrblock.“

Aber kein Nationen-Duell im Fußball ist historisch und emotional so aufgeladen wie das zwischen Deutschland und England. „Das sind die Fußballabende, auf die sich die ganze Welt freut“, meint Nationalspieler Leon Goretzka. Am besten hat es in seiner unnachahmlichen Art einst Franz Beckenbauer vor englischen Journalisten beschrieben: „We call it a Klassiker!“ 36 dieser Klassiker gab es bisher. England führt mit 16 zu 13 Siegen. Aber eigentlich ist Wembley mit einer Ausnahme ein gutes Omen für die Deutschen. Fünf Gründe, warum dieses Duell so besonders ist.

Wembley, 30. Juli 1966

Was wäre der Fußball ohne jene 101. Minute der Verlängerung des WM-Finales 1966, Geoffrey Hurst schießt, der Ball prallt von der Unterkante der Latte auf den Rasen, Wolfgang Weber klärt ins Aus. Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst entscheidet zunächst auf Eckball, nach Rücksprache mit seinem sowjetischen Linienrichter Tofik Bahramov dann auf Tor zum 3:2, England siegt am Ende 4:2 und wird zum ersten und einzigen Mal Weltmeister. Bundespräsident Heinrich Lübke steht in Deutschland mit seiner Einschätzung weitgehend allein da: „Jeder hat gesehen, dass der Ball im Netz gezappelt hat.“ Es ist das bekannteste Nicht-Tor der Fußballgeschichte, und es zeigt, wie brutal, aber auch wie schön der Fußball ohne Videobeweis war.

Kein Tor sorgte für mehr Debatten – es gilt den deutschen Nationalteams über Jahrzehnte als Motivation. 2006 heißt es, dass es kein Tor war, sei nun eindeutig erwiesen, mit neuester Technik wurde ein Film vom Finale aufbereitet, demnach habe der Ball zu keinem Zeitpunkt die Linie in vollem Umfang überschritten.

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Die britische Presse sieht direkt nach dem Spiel natürlich einen völlig verdienten Sieg, lobt aber auch die Fairness der Deutschen. Die Presse in Südamerika nimmt kein Blatt vor den Mund. „Die englischen Piraten haben ihre Chance genutzt. Sie haben wie gewöhnlich regelwidrige Tore erzielt, aber der Schiedsrichter ließ sie gewähren“, schreibt „Ultima Hora“. Der Schweizer Schiedsrichter Dienst habe sich „als nutzvollster englischer Spieler“ erwiesen, meint die Zeitung „Cronica“. „Torschütze Geoff Hurst sagte ganz ehrlich: ,Ich schoss aus der Drehung und hatte genug zu tun, um auf den Beinen zu bleiben. Ich konnte nicht erkennen, ob der Ball die Linie überschritt.’“

35 Jahre später räumt er ein: Kein Tor. Sein Nebenspieler Roger Hunt meinte damals: „Ich stand genau daneben. Der Ball sprang mindestens 20 Zentimeter hinter der Linie auf.“ Der deutsche Torhüter Hans Tilkowski sagt: „Ich schwöre, der Ball war niemals drin.“ Der im Stadion anwesende Sportjournalist André Varela meint: „Es wird immer unverständlich bleiben, dass der Unparteiische auf das heftige Winken des sowjetischen Linienrichters einging, der mindestens 25 Meter entfernt war.“

Turin, 4. Juli 1990:

WM-Halbfinale in Italien. Am Spieltag ruft Ehrenspielführer Fritz Walter, Weltmeister 1954, im deutschen Teamhotel an und macht Mut. „Am 4. Juli sind wir unschlagbar“, erinnert er an das „Wunder von Bern“, den ersten deutschen Titelgewinn 1954. Das Spiel ist zäh, Andreas Brehme schießt nach einem Fehler des englischen Torwarts Peter Shilton in der 60. Minute das 1:0, Gary Lineker kann zehn Minuten vor Schluss ausgleichen. Nach 30 Minuten Verlängerung gibt es erstmals zwischen beiden Nationen Elfmeterschießen.

Das wird zu einem neuen Trauma, dieses Mal für die Engländer. 0:1 Lineker, 1:1 Brehme, 1:2 Peter Beardsley, 2:2 Lothar Matthäus, 2:3 David Platt, 3:3 Karl-Heinz Riedle. Dann kommt die Stunde des Bodo Illgner vom 1. FC Köln: Er hält den Elfmeter von Stuart Pearce. 4:3 Deutschland durch Olaf Thon, dann schießt Chris Waddle über das Tor. Deutschland wird vier Tage später in Rom gegen Argentinien Weltmeister, durch den Elfmeter von Andy Brehme. Und Gary Lineker fasst die Pleite mit dem inzwischen vielzitierten Spruch zusammen: „Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen immer die Deutschen.“

Illgner reckt die Faust nach Waddles Fehlschuss.Vier Tage später wird Deutschland Weltmeister.
Illgner reckt die Faust nach Waddles Fehlschuss.Vier Tage später wird Deutschland Weltmeister.

© imago/WEREK

2018, nachdem Deutschland bei der WM in Russland trotz gelb-roter Karte für Jerome Boateng noch 2:1 gegen Schweden gewinnt, wandelt er das Zitat ab: „„Fußball ist ein einfaches Spiel. 22 Männer rennen 82 Minuten dem Ball hinterher und Deutschland muss einen Mann vom Platz schicken. Also rennen 21 Männer für 13 Minuten den Ball hinterher und am Ende gewinnen irgendwie verdammt noch mal die Deutschen.“

Wembley, 20. Juni 1996

Es ist das Turnier, das den Engländern gehört. Jedenfalls beanspruchen sie die Europameisterschaft für sich. Der Fußball kommt in sein Mutterland, nach Hause. Die „Lightning Seeds“ haben ihr „Three Lions“ (mit der Textzeile „Football is coming home“) aufgelegt und die ganze Nation träumt vom ersten Titel seit 30 Jahren, seit dem WM-Finale von 1966. Denn, wie heißt es in dem Song: „30 years of hurt never stopped me dreaming.“ Und die Deutschen hatten die Engländer nach den eigenen starken Auftritten in der Gruppenphase gar nicht als Spielverderber auf der Rechnung.

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Doch den Engländern wird das Lachen vergehen – gegen die Deutschen und das wieder einmal und wieder wie 1990 in einem Halbfinale, diesmal bei der EM. Dabei fängt es gut an für die Briten, bereits in der dritten Minute köpft Alan Shearer die Mannschaft von Coach Terry Venables in Führung, doch Stefan Kuntz gleicht nach einer Viertelstunde aus. Danach haben die Engländer zwar viele gute Möglichkeiten, das Spiel zu entscheiden, doch es geht nach 120 Minuten dann doch ins Elfmeterschießen, wovor die Engländer angeblich diesmal keine Furcht haben. So sagten sie es im Vorfeld, denn schließlich haben sie ja einen David Seaman im Tor. Der Mann im kunterbunten Neunziger-Trikot ist dann aber bei allen deutschen Schüssen vom Punkt machtlos.

Fünf Versuche auf beiden Seiten – alle Schützen treffen. Bis dann Gareth Southgate kommt, zittrig anläuft und den Ball wenig scharf in die Arme des deutschen Torwarts Andrea Köpcke schießt. Anschließend verwandelt Andreas Möller den entscheidenden Elfmeter sicher. Sekunden danach baut er sich vor dem Publikum in Wembley auf, Hände in die Hüften gestemmt: Seht her, gegen uns verliert ihr jedes Mal! Dieses Selbstvertrauen trägt die Deutschen ein paar Tage später im Endspiel gegen Tschechien zum Titel.

Der Schmerz bei den Engländern aber sitzt tief: Zwei Jahre später, zur WM 1998, legen die Lightning Seeds ihren Song wieder auf: Im Video zu „Three Lions“ treten picklige deutsche Fans mit Fokuhila-Frisur auf und tragen alle ein Trikot mit der 11 von (Stefan) Kuntz, auf Englisch gesprochen klingen die Wort elf und Kuntz nicht schmeichelhaft, ganz derber Humor halt. Nützt aber auch nichts: England scheitert im Achtelfinale an Argentinien.

Wembley, 7. Oktober 2000

Beide Teams treffen in der WM-Qualifikation aufeinander. Es ist das letzte Spiel im alten Wembley Stadion. 1923 eröffnet, bot es zunächst Platz für fast 130 000 Zuschauer, später für rund 80 000. Es sieht die Olympischen Spiele 1948, das berühmte Live-Aid-Konzert 1985, weltbekannt sind die beiden weißen Türme der Haupttribüne. Ursprünglich wegen einer damaligen großen Kolonialausstellung „British Empire Exhibition Stadium“ getauft und in weniger als einem Jahr erbaut.

Der Neubau ist mit vielen Problemen behaftet, kostet weit über eine Milliarde Euro und kann erst 2007 in Betrieb gehen. Heute ist das Markenzeichen statt der Twin Towers ein 133 Meter hoher Bogen, der über das Stadion reicht.

Die Deutschen lassen es sich nicht nehmen, zum letzten Spiel in Old Wembley noch einmal etwas Rache für das berühmteste Tor in diesem Stadion zu nehmen. Im letzten Spiel im alten Wembley-Stadion schießt ausgerechnet Dietmar Hamann, der damals beim FC Liverpool spielt, in der 13. Minute das einzige Tor mit einem Freistoß aus 32 Metern. „Hamann schwingt die Abrissbirne“, titelt eine britische Zeitung.

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Teamchef Rudi Völler blickt andächtig nochmal in das weite Rund: „Es ist der Traum eines jeden Fußballers, hier mal zu spielen. Für mich steht das Wembley in einer Reihe mit dem Maracana in Rio, dem Aztekenstadion in Mexiko und vielleicht San Siro in Mailand.“ Eine junge Redakteurin der „Times“ wettert derweil gegen den „nostalgischen Nonsens“. Für sie sei das Wembley schon lange nur noch etwas für „verstaubte Geschichten“ gewesen, oder für die japanischen Touristen mit ihren Camcordern. „Wir haben es hier drin doch nur noch mit den Programmheften unter dem Hintern ausgehalten. Wenn wir im neuen Wembley feine Fußballspiele zu sehen bekommen, ohne den ganzen Dreck und Verfall, dann mögen die Bulldozer erfolgreich sein.“

Bloemfontein, 27. Juni 2010

Manuel Neuer kann in Südafrika Lampards Schuss nur hinterherschauen.
Manuel Neuer kann in Südafrika Lampards Schuss nur hinterherschauen.

© picture alliance/dpa/EPA

Keiner kann behaupten, der Deutsche Fußball-Bund hätte keinen Sinn für Humor. Zwei Tage vor dem Achtelfinale der WM in Südafrika gegen England durften die deutschen Nationalspieler ihr abgeriegeltes Anwesen, das Velmore Grande zwischen Johannesburg und Pretoria, verlassen und sich in die südafrikanische Weite begeben, ins wilde Leben ringsum. Natürlich war der Ausflug bewacht und perfekt organisiert, typisch deutsch eben. In Südafrika heißen solcherlei Ausflüge Safari. Und – jetzt kommt’s: Es ging in einen Löwenpark. Welch originelle Einstimmung auf das Duell mit den „Three Lions“.

Ein sollte ein denkwürdiges Spiel werden, eins, das alles hatte, um als Fußballklassiker in die Geschichte einzugehen. Vor allem auch wegen jener Szene in der 38. Minute – obwohl es über sie streng genommen gar nichts zu diskutieren gab: Der Schuss von Frank Lampard auf das Tor von Manuel Neuer war von der Unterkante der Latte deutlich hinter die Linie geprallt. Das konnte man auch ohne technische Hilfsmittel sehen. Es wäre das 2:2 für die Engländer gewesen – nachdem sie bereits 0:2 zurückgelegen hatten. Vielleicht, vielleicht sogar wahrscheinlich hätte das Spiel einen anderen Verlauf genommen.

So aber gewannen die Deutschen am Ende dank zwei perfekter Kontertore des damals erst 20-jährigen Thomas Müller 4:1. Es war ein verdienter Sieg für die Nationalmannschaft, der jedoch wegen des nicht gegebenen Ausgleichs der Engländer einen Flecken hat, anderen sahen darin eine späte Gerechtigkeit für jenes Wembley-Tor 1966.

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