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Kleiner Anschlag ohne Luther: 59 Thesen zu Landschaft und Museen sind im nordwestbrandenburgischen Wittenberge im Landkreis Prignitz an der Alten Ölmühle angeschlagen.

© Bernd Settnik/dpa

Wittenberge und Wittenberg: Das „e“ macht den Unterschied

Wittenberge oder Wittenberg: Ein einziger Buchstabe kann dafür sorgen, dass Touristen auf Luthersuche 200 Kilometer vom Weg abkommen.

Wittenberg/Wittenberge - Die Gefahr ist groß: Bei diesen Städten kann das vorhandene oder fehlende „e“ im Namen schnell in die Irre führen. Entweder geht es in die Lutherstadt Wittenberg in Sachsen-Anhalt oder das etwa 200 Kilometer nördlich gelegene Wittenberge in Brandenburg. So passieren Verwechslungen - und Touristen, die eigentlich auf den Pfaden Luthers wandeln wollten, landen schon mal in der falschen Stadt. Die bekannten Museen sind nicht in Wittenberge in der Prignitz zu finden. Dort hinterließ der Reformator keine Spuren.

Obwohl der Beiname Lutherstadt Wittenberg ein Verirren, zumal im Zeitalter der modernen Navigationstechnik, eigentlich unmöglich machen sollte, kommt es doch vor. „Unserem Besucherservice ist ein Fall bekannt, da wartete ein Reiseleiter in Wittenberg auf seine Gruppe, um sie durchs Lutherhaus zu führen. Wie sich dann herausstellte, war die Gruppe nach Wittenberge gefahren“, erzählt der langjährige Sprecher der Stiftung Luthergedenkstätten in SachsenAnhalt, Florian Trott.

Auch dieser Fall machte Schlagzeilen: Ein Berliner Ehepaar war einen Tag in Wittenberge, als es sich in einem Café nach der Kirche mit Luthers Thesen erkundigte. Erst dann wurde beiden klar: „Wir sind am falschen Ort.“ Das Internet hatten ihnen das Hotel „Alte Ölmühle“ empfohlen - in der Stadt mit einem „e“ am Ende.

„Das passiert von Zeit zu Zeit“, sagt der Geschäftsführer der „Alten Ölmühle“, Jan Lange. Daraus wurde nun ein Werbegag, nicht nur für die Prignitz-Stadt, sondern gleich für die Region. „Wir haben keinen Luther“, muss Lange eingestehen. Martin Luther (1483-1546) hatte 1517 der Überlieferung nach seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg angeschlagen. Darin wetterte er gegen den Ablasshandel der Kirche, mit dem man sich von Sünden freikaufen konnte. In diesem Jahr jährt sich das Ereignis zum 500. Mal und wird als Reformationsjubiläum 2017 weltweit begangen.

„Wir haben dafür Landschaft, Museen und Ausflugsziele“, wirbt Lange für Wittenberge und zeigt – statt auf 95 wie in Wittenberg – auf umgekehrt 59 Thesen, angeschlagen vor der „Ölmühle“. In alter Schrift sind auf einer gut fünf Meter hohen Tafel Ausflugstipps zu lesen. Sie seien aber nicht nur für die aus Versehen nach Wittenberge geratenen Besucher gedacht, so der Gastronom. Wittenberge mit rund 17 000 Einwohnern kann für sich in Anspruch nehmen, Industriegeschichte geschrieben zu haben. Einst war hier die Wiege der deutschen Nähmaschinenindustrie. Die nach Angaben der Stadt größte Turmuhr Europas erinnert daran. Nach der Wende wurde das Werk als größter Arbeitgeber abgewickelt. Heute bieten ein Dämmstoffhersteller, ein Chemiewerk und ein Werk für Brandschutztechnik Arbeitsplätze. In Wittenberg sind die Stickstoffwerke Piesteritz auch nach dem gravierenden Strukturwandel in der ostdeutschen Chemie der größte Arbeitgeber. Die Stadt zählt seit einer Gebietsreform rund 50 000 Einwohner.

Neben vielen Unterschieden gibt es zwischen beiden Städten auch ein paar Gemeinsamkeiten – die Elbe zum Beispiel. Prominentes „Bindeglied“ ist der Friedenspreisträger und Theologe Friedrich Schorlemmer. Der DDR-Bürgerrechtler wurde im brandenburgischen Wittenberge geboren, seit Jahrzehnten lebt er nun in Wittenberg in Sachsen-Anhalt. Wenn er sich an seine alte Heimat erinnert, fällt ihm spontan „weißer Schaum auf der Elbe, die eine stinkende Brühe war“ ein, so Schorlemmer. Der Fluss und die Menschen in der DDR litten bis zum Fall der Mauer unter Umweltverschmutzung. Umso mehr freue es ihn heute, ein Vierteljahrhundert nach der Wende, dass es anders geworden sei, dass auch wieder Fische von Wittenberge nach Wittenberg kommen.

Bis heute im Ohr geblieben sind Kompositionen von Paul Lincke (1866-1946/„Frau Luna“), der in Wittenberge seine musikalische Ausbildung absolvierte. Wohl aus Begeisterung für die beschauliche Kleinstadt komponierter er seinen „Gruß an Wittenberge“. Auch der Ohrwurm „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft“ stammt aus seiner Feder. Und ob nun aus Wittenberge oder Wittenberg - zumindest bis in die Bundeshauptstadt ist es mit oder ohne „e“ nur ein Katzensprung - ohne sich zu verfahren.

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