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Brandenburg: Wenn die Treue 600 Jahre währt

Wenn selbst der Tod nicht scheidet: Zwei Ur-Berliner hielten sich mehr als 600 Jahre lang an den Händen – auch ihrer wurde gestern gedacht

Von Sandra Dassler

Berlin - Er hatte den Arm um sie gelegt, sie schmiegte sich an ihn – und zusätzlich hielten sie sich an den Händen. Diese beiden Berliner konnte weder der Tod scheiden noch die Zeit: Viele Jahrhunderte lang lagen sie so und waren auch noch nicht voneinander getrennt, als man ihre Skelette auf dem Berliner Petriplatz entdeckte.

„Das hat uns sehr berührt“, sagt Claudia Maria Melisch. Die Berliner Archäologin hat von 2007 bis 2009 gemeinsam mit vielen Kollegen und Helfern auf dem Petriplatz nach den Ursprüngen Berlins gegraben. Sie stießen nicht nur auf die Überreste der Mitte der sechziger Jahre gesprengten Petrikirche, sondern auch auf mehr als 3000 Gräber mit 3716 mehr oder weniger vollständigen Skeletten und weiteren Gebeinen, die nicht mehr zusammengefügt werden konnten.

Die Verstorbenen sind zwischen 1200 und 1717 um die Petrikirche beigesetzt worden, berichtet Claudia Maria Melisch. Das verschlungene Paar, das die Archäologen prompt Romeo und Julia nannten, lebte im 13. oder 14. Jahrhundert. „Sie war Mitte 20, er Mitte 30 – sie können also kaum an Altersschwäche gestorben sein“, sagt die Archäologin. „Natürlich überlegt man sich, was für eine Geschichte dahintersteckt, welches Schicksal die Liebenden erlitten haben. Aber das werden wir wohl nie erfahren.“

Claudia Maria Melisch leitete die archäologischen Grabungen am Petriplatz. Dass hier die Wiege Berlins stand, wusste man – aber nicht, seit wann. Als Geburtsjahr gilt 1237, weil darauf eine Urkunde hinweist, in der ein Pfarrer namens Symeon aus Cölln berichtet, der älteren Hälfte der anfänglichen Doppelstadt an der Spree. Die Ausgrabungen erbrachten nun allerdings Beweise, dass dort auch ein halbes Jahrhundert zuvor schon Menschen in der Siedlung gelebt haben.

Mit so vielen Skeletten hatte man allerdings nicht gerechnet – und obwohl sich laut Senatsbaudirektorin Regula Lüscher alle Beteiligen um einen würdevollen Umgang mit den Gebeinen bemühten, blieb das unangenehme Gefühl, die Totenruhe zu stören. „Viele haben in den vergangenen Jahren den Wunsch nach einem würdevollen Abschluss geäußert“, sagte die Sprecherin der Stadtentwicklungsbehörde, Petra Rohland.

Und so luden das Landesdenkmalamt und die St. Petri-St. Mariengemeinde für gestern zu einer ungewöhnlichen Andacht ein: Auf dem Friedhof St.Petri-Luisenstadt in Friedrichshain wurde an die unbekannten Toten der Fundstelle erinnert, dort waren auch jene Gebeine beigesetzt worden, die nicht mehr zu sogenannten Skelettindividuen zusammengefügt werden konnten. Zwölf Kubikmeter „Streuknochen“ fanden ihre letzte Ruhe, zwei Stelen des Bildhauers Nikolaus Seubert markieren die Stelle. Weil kein einziges Skelett namentlich zugeordnet werden konnte, erinnerte Claudia Maria Melisch in der Andacht an zwei berühmte Mitglieder der alten St. Petri-Gemeinde: Pfarrer Symeon von 1237 und Pfarrer Johann Peter Süßmilch, der als Vater der deutschen Statistik gilt und 1767 in der barocken Petrikirche bestattet wurde. „Ich glaube, unsere Vorfahren würden sich freuen, wenn sie wüssten, dass wir ihre Würde wahren“, sagte die Berliner Archäologin. Gemeindepfarrerin Beate Dürschauer bezeichnete es als „Ausdruck von Liebe“, den Ahnen ihre Ruhe wiederzugeben.

Noch nicht wieder bestattet sind die 3716 vollständigen Skelette vom Petriplatz, die derzeit in der Gruft der Parochialkirche in Mitte lagern. Senat und Denkmalpfleger haben beschlossen, sie in einem Ossuarium, einem Knochenhaus, zu bestatten. Es soll Bestandteil eines archäologischen Zentrums werden. Das kann noch etwas dauern, sagt Petra Rohland, Sprecherin der Stadtentwicklungsverwaltung. Derzeit ist ein Wettbewerb ausgeschrieben, bis Jahresende könnten Ergebnisse vorliegen.

Dann entscheidet sich auch, ob das Ossuarium in einem Hochbau oder in unterirdischen Gängen angelegt wird. Die Planung müsse sich auf jeden Fall in das Gesamtkonzept für den künftigen Petriplatz, wo auch ein Bet- und Lehrhaus für die St. Petri-St. Mariengemeinde entstehen soll, einfügen, heißt es aus dem Senat. Auf jeden Fall sollen die Funde vom Petriplatz vielen Besuchern zugänglich gemacht werden.

Allein die ausgegrabenen Gebeine bergen so viele spannende Geschichten, dass Archäologin Claudia Maria Melisch stundenlang erzählen könnte. So wurde vielen Toten noch im Mittelalter nach griechischer Tradition eine Münze in den Mund gelegt, mit der sie die Kahnfahrt über den Styx ins Unterweltreich bezahlen sollten. Später wünschte man, der Verstorbene möge sich an der Münze die Zähne ausbeißen, damit er nicht lebende Verwandte in den Tod zog. Die Angst vor jenen sogenannten Nachzehrern, den Untoten, war in vielen Gegenden groß. Möglicherweise hatte das auch mit den vor allem zu dieser Zeit grassierenden Seuchen zu tun. Überhaupt steckt die Weltgeschichte den Toten buchstäblich in den Knochen. So kann man gut erkennen, wie die Menschen nach der Entdeckung Amerikas und der Einführung von Kartoffeln und Rohrzucker ihre Ernährung umstellten. Im 12. Jahrhundert hatte jedenfalls noch niemand Karies, sagt Claudia Maria Melisch. Dafür waren damals die Zähne oft stark abgekaut.

Was nun aus „Romeo und Julia“ wird? Sie sollen – das hat sich Archäologin Claudia Maria Melisch jedenfalls vorgenommen – im Ossuarium wieder nebeneinander liegen.

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