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Demokratie für alle. Uta Gerber, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Oberhavel Süd (3.v.l.), freut sich für ihre Betreuten Mario Klante (l.), Candy Teske und Jens Schmidt. Bei der Landtagswahl 2019 sollen sie probemlos ihre Stimme abgeben können.

© Andreas Klaer

Wahlrecht in Brandenburg: Eigentlich total normal

Nach jahrelangem Kampf von Betroffenen wollen SPD und Linke das aktive Wahlrecht für alle Behinderten öffnen. Brandenburg wäre das erste Ostland, das Diskriminierung beim Urnengang abschafft.

Potsdam - Candy Teske will wählen. Wenn im kommenden Jahr der neue Brandenburger Landtag bestimmt wird, möchte sie ihre Stimme abgeben. Das klingt in Zeiten schlechter Wahlbeteiligung und Politikverdrossenheit ermutigend. Vor allem aber klingt es total normal, selbstverständlich. Doch in Brandenburg – ausgerechnet einem Bundesland, das sich Inklusion, das Miteinander von Behinderten und Nichtbehinderten, auf die Fahnen geschrieben hat – war es bislang alles andere als selbstverständlich. Candy Teske hat eine geistige Behinderung. Die 37-Jährige lebt in Velten in einer Wohngruppe der Lebenshilfe Oberhavel Süd. Schon 2013, bei der Bundestagswahl, wollte sie wählen gehen, ihr Bürgerrecht wahrnehmen Und wurde, wie rund 20 andere Menschen mit Handicap aus Velten, Oranienburg und Hennigsdorf, daran gehindert. Widerrechtlich.

Was dann begann, war eine jahrelange Odyssee von Betroffenen. Es ist eine schier unendliche Geschichten von Behördenpannen, gegenseitigen Schuldzuweisungen öffentlicher Institutionen, aber auch Ignoranz und Gleichgültigkeit. „Ich habe einfach ein Recht einfordert, das meinen Arbeitgebern zusteht“, sagt Uta Gerber, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Oberhavel. Jetzt, endlich, fünf Jahre später, will Rot-Rot den Weg dafür ebnen, dass sich so ein Wahlfiasko wie 2013 und ein Jahr später bei den Kommunal- und Europawahlen nicht wiederholen kann. Sämtliche Menschen, egal wie schwer die geistige Behinderung ist, sollen wählen dürfen. Denn – und das ist der eigentlich Wahlskandal – Candy Teske und andere Mitbewohner hätten schon damals, ohne die Wahlrechtsänderung, die Möglichkeit haben müssen, zu wählen – und wurden doch daran gehindert.

2400 Menschen bislang ohne Wahlrecht in Brandenburg

Bislang sieht das Wahlrecht vor, dass nur Menschen, die für alle Belange des Lebens einen vom Gericht bestellten Betreuer benötigen und damit komplett geschäftsunfähig sind, vom Urnengang ausgeschlossen werden. In Brandenburg sind das nach Angaben der SPD-Fraktion rund 2400 Menschen. Im Wählerverzeichnis der Amtsgerichte steht für diese Personen ein Sperrvermerk. Wann eine komplette Betreuung verhängt wird, ist in den Augen von Uta Gerber oft „reine Willkür“ – was schon der Unterschied unter den Bundesländern zeige. Nirgendwo werden so viele Komplettbetreuungen angeordnet wie in Bayern. In Hamburg ist die Quote am niedrigsten. Brandenburg liegt im Mittelfeld.

Candy Teske braucht, wie die meisten Menschen mit Behinderung, nicht für sämtliche Lebensbereiche einen gerichtlichen Betreuer. Trotzdem bekamen rund 20 Bewohner der Lebenshilfe-Wohngruppen in Oberhavel mit Teilbetreuung 2013 keine Wahlbenachrichtigung. Uta Gerber wandte sich an den Landeswahlleiter, den Behindertenbeauftragten des Landes, das Amtsgericht Oranienburg, die Kommune, die Politik, die Öffentlichkeit. Für die Bundestagswahl war es zu spät, die war schon verpasst. Aber noch einmal – so die Beteuerung der Behörden – würde sich das nicht wiederholen, man sei nun sensibilisiert. Justiz- und Innenministerium versprachen Abhilfe, auch der Innenausschuss des Landtags befasste sich mit der Panne. Und trotzdem: 2014 waren Candy Teske und andere Betroffenen wieder nicht zur Wahl geladen. Ihre Enttäuschung sei groß gewesen, sagt Candy Teske. „Ich interessiere mich sehr für Politik“, erklärt sie. Besondere Ironie der Geschichte: Ihre Wohnstätte in Velten fungierte als Wahllokal. Die Behinderten hätten also zusehen können, wie andere ihr demokratisches Grundrecht ausüben. Nachdem das erneute Behördenversagen – wieder unter Hin- und Herschieben der Verantwortlichkeit – durch Medienberichte öffentlich wurde, bekam Candy Teske Besuch. Veltens Bürgermeisterin brachte ihr persönlich einen Wahlschein vorbei – quasi kurz vor Schließung des Wahllokals.

„Im Innenministerium gibt es auch Stimmen, die das kritisch sehen“

Solche diskriminierenden Vorfälle sind künftig ausgeschlossen, denn nach dem Willen von SPD und Linke soll es überhaupt keine Sperrvermerke für Behinderte mehr im Wählerverzeichnis geben. Am Donnerstag wurde der entsprechende Gesetzentwurf in erster Lesung im Landtag diskutiert und fand Zustimmung über alle Fraktionen hinweg. Frühestens im Mai könnte das geänderte Wahlrecht verabschiedet werden. Die bisherige Praxis sei völker- und menschenrechtlich untragbar, sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Björn Lüttmann. Seit 2009 gilt die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland als einer der ersten Staaten unterzeichnet hat. Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen kritisierte die in Deutschland bestehenden Wahlrechtsbeschränkungen und forderte deren Abschaffung. Brandenburg wäre laut Lüttmann im Osten das erste Bundesland, das das Wahlgesetz öffnet. Vorreiter sind Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Warum es in Brandenburg so lange gedauert hat, bis trotz der geschilderten Pannen endlich ein Gesetzentwurf auf den Weg gebracht wird, erklärt der SPD-Politiker so: „Man hat gewartet, ob der Bund aktiv wird.“ Außerdem sei der Druck nicht da gewesen, „aber jetzt stehen die nächsten Wahlen vor der Tür“. Dann fügt er an: „Im Innenministerium gibt es auch Stimmen, die das kritisch sehen.“ Es gebe die Befürchtung, dass geistig Behinderte bei ihrer Stimmabgabe beeinflusst werden könnten. Aber das, sagt Lüttmann, könne bei der Briefwahl zu Hause in jeder Familie passieren.

Wahlscheine in einfacher Schrift und Sprache würden Behinderten den Urnengang erleichtern, sagt Uta Gerber. Betroffenen, die nicht lesen können, werde vom Betreuer vorgelesen, was wo steht. Wie eine Wahl funktioniert – dafür braucht Candy Teske längst keine Erläuterung mehr. Sie will wählen. Selbstverständlich. Unbehindert.

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