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Von Tanja Buntrock und Matthias Matern: Vom Leben abgeschottet

In der Uckermark konnte eine Familie eines ihrer drei Kinder über Jahre hinweg isolieren und einfach nicht einschulen. Nun gibt das Jugendamt des Kreises Fehler zu. Es war Hinweisen nicht nachgegangen

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Lübbenow/Prenzlau - Die Betroffenheit ist Karina Dörk anzuhören: „Nie hätte ich gedacht, dass so etwas auch bei uns möglich ist“, sagt die 45-jährige Ortsvorsteherin von Lübbenow, einem beschaulichen Dorf am Rande der Uckermark. Es ist einer der Sätze, wie sie immer gesagt werden, wenn „so etwas“ dann doch vor der eigenen Haustür geschehen ist. Nun also: Lübbenow, 349 Einwohner, Uckermark, schönstes Brandenburg kurz vor Vorpommern.

Neun Jahre lang sollen Patricia W. und Niko N. eines ihrer drei Kinder in ihrem Haus versteckt haben. Ihre heute 13 Jahre alte, geistig und körperlich behinderte Tochter hat noch nie eine Schule gesehen. Die Eltern haben sie verwahrlosen lassen und komplett von der Umwelt abgeschottet.

Erst vor rund anderthalb Wochen erlöste, wie gestern bereits kurz berichtet, nach einem Hinweis aus der Nachbarschaft ausgerechnet die Behörde das Mädchen, die ihm wohl schon hätte vor Jahren helfen können, aber offenbar kläglich versagte: das Jugendamt des Kreises.

Das Jugendamt im knapp 22 Kilometer von Lübbenow entfernten Prenzlau gestand denn gestern, einen Tag nach Bekanntwerden des Falls, „Versäumnisse“ ein. Dem Amt ist die Familie bereits seit 2006 bekannt. Dies gab die Sprecherin des Landkreises Uckermark, Ramona Fischer, zu. Bereits im ersten Halbjahr 2006 hatte es demnach einen Hinweis eines Nachbarn an das Jugendamt gegeben. Er habe die Vermutung geäußert, dass das Mädchen nicht zur Schule geht. „Daraufhin hat ein Mitarbeiter des Jugendamtes die Familie aufgesucht“, berichtet Fischer. Doch eine „Gefährdung des Kindeswohls“ habe er bei dem Mädchen nicht gesehen. Die Eltern des Kindes hätten ihm erzählt, dass die Tochter aufgrund ihrer Behinderung von der Schulpflicht zurückgestellt sei. Dies habe der Mitarbeiter so hingenommen: Er sei wieder gegangen, sagte Fischer. „Warum er nichts unternommen hat, ist unklar. Das werden wir prüfen“. Ein solcher Fehler hätte nicht passieren dürfen, dies sei „ganz klar ein Versäumnis“.

Nachdem sich nun ein weiterer Nachbar gemeldet hatte, habe sich sofort Landrat Klemens Schmitz (parteilos) eingeschaltet. Er wies alle Ämter an, die Fehler und Lücken im System aufzudecken. Unter anderem müsse auch die Frage geklärt werden, warum das Kind gar nicht erst zur Einschulungsuntersuchung bestellt worden war.

Das kann sich auch Christine Wernicke, die parteilose Bürgermeisterin der Gemeinde Uckerland, zu der Lübbenow gehört, nicht so recht erklären. „Alle fünf Personen, die Eltern und drei Kinder, waren bei uns angemeldet“, versichert sie. Vor rund vier Jahren sei dann ihrer Vorgängerin aufgefallen, dass eines der Kinder nie in der Grundschule vorgestellt wurde. „Daraufhin wurde das Jugendamt in Prenzlau informiert“, behauptet Wernicke. Ob es sich dabei um den Hinweis handelte, dem das Jugendamt so schlampig nachging, oder ob es gar mehrere Hinweise gab, blieb gestern offen.

Fest steht, dass nun die Staatsanwaltschaft Neuruppin gegen die Eltern wegen des Verdachts auf Verletzung der Erziehungs- und Fürsorgepflicht ermittelt. Ob auch ein Verfahren gegen Ämter und Behördenmitarbeiter hinzukommt, ist noch unbekannt.

Zwar soll das Kind nicht geprügelt worden sein, doch wenn sich herausstellen sollte, „dass es durch die Vernachlässigung der Eltern gesundheitliche Beschädigungen erlitten hat, dann droht eine Haftstrafe von sechs Monaten bis zu 10 Jahren“, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft Neuruppin, Jürgen Schiermeyer. Er betonte, dass das Mädchen nicht von den Eltern in einem Verließ oder Ähnlichem eingesperrt worden war. Auch sei das Kinderzimmer nicht vergittert oder verschlossen gewesen. „Doch die Eltern haben es dennoch von der Umwelt abgeschottet. Es gab für das Mädchen keinerlei soziale Kontakte nach außen“, sagte Schiermeyer.

Die Ermittlungen laufen bereits seit dem 15. Juli – an diesem Tag hatte die Polizei das Kind aus dem Haus der Eltern geholt, nachdem ein Nachbar sich an die Behörden gewandt hatte. Das Mädchen wurde in eine Klinik gebracht, wo es immer noch ist. „Es wird fachärztlich untersucht, auch um festzustellen, welche Art von Behinderungen es hat“, sagte die Landkreissprecherin. Danach werde über weitere Schritte entschieden.  Nach Angaben von Landrat war das Mädchen bei den Eltern in Windeln gefunden worden und zeige autistische Verhaltensmerkmale. Das Familiengericht habe dem Beschluss des Jugendamtes, den Eltern ein Teil des Sorgerechts zu entziehen, am Dienstag zugestimmt. Über das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitsfürsorge entscheidet nun das Jugendamt.

Die beiden Geschwister des Mädchens – ein 14-jähriger Bruder und eine elfjährige Schwester – dürfen bis auf Weiteres bei den Eltern bleiben. Bei ihnen gebe es keine Anzeichen von Verwahrlosung. Auch hätten sie regelmäßig die Schule besucht.

„Die beiden anderen Kinder sind eigentlich immer recht ordentlich angezogen“, meint Ortsvorsteherin Dörk. „Die Mutter habe ich stets nur im Auto gesehen, wenn sie die zwei in die Schule gebracht hat.“ Den Vater habe sie vielleicht fünf Mal gesehen. „Dabei hat er auf mich immer einen angetrunkenen Eindruck gemacht“, berichtet die Ortsvorsteherin. Ihr Eindruck: eher „ungepflegt“. Dass es in der Familie noch ein drittes Kind gibt, sei vielen im Ort nicht bekannt gewesen, sagt die Ortsvorsteherin: „Ich war selbst richtig erschrocken, dass es da noch ein drittes Kind gibt.“

Nun seien „alle betroffen und erschrocken“, sagt Dörk. Nachbarn berichten, dass die Familie etwa vor neun Jahren aus Berlin ins Dorf gezogen sei. Allerdings habe sich die Familie gar nicht am Dorfleben beteiligt. „Wir hatten bisher keinen Kontakt und wollen auch keinen haben“, sagt ein älterer Nachbar, der nur wenige Meter vom Haus, in dem das Mädchen solange versteckt worden war, an seinem Gartenzaun lehnt. Ob er es war, der das Jugendamt informiert hat, will er nicht verraten. Auch seinen Namen nicht. Dass es ein drittes Kind bei den Nachbarn gibt, sei ihm allerdings schon lange bekannt, räumt er ein. „Das letzte Mal, glaube ich, habe ich das Mädchen vor sieben Jahren gesehen.“

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