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Von Matthias Matern: Märkisches Urvieh

Seit dem 17. Jahrhundert gelten Auerochsen als ausgestorben. Christiane Grosdanoff will das Urrind wieder auferstehen lassen

Von Matthias Matern

Sophiendorf - Im Schritttempo steuert Christiane Grosdanoff ihren Land Rover auf die Herde zu. In gebührendem Abstand bleibt sie stehen, schaltet den Motor aus. Die Türen bleiben vorsichtshalber zu. Denn zwei Meter entfernt hebt Lulatsch gemächlich seinen Kopf und fixiert den grünen Geländewagen mit seinen kohlrabenschwarzen Augen. Der riesige, muskelbepackte Auerochsenbulle mit seinen langen geschwungenen Hörnern ist ein ehrfurchtgebietender Anblick. „In der Regel flüchten die Tiere eher vor uns Menschen. Aufgrund unserer frontalen Augenstellung und unserer zielstrebigen Gangart sehen sie in uns einen potenziellen Jäger“, beruhigt Grosdanoff. Seit 1993 züchtet die 35-Jährige in Sophiendorf nahe Neustadt/Dosse (Ostprignitz-Ruppin) Auerochsen. 30 der halbwilden Urrinder leben derzeit auf ihrem rund 50 Hektar großen Weideland.

Einst durchstreifte der Auerochse in großen Herden die Wälder und Wiesen Europas, Afrikas und Asiens. Nördlich der Alpen galt er nach der letzten Eiszeit neben Wisenten, Rothirschen und Elchen als das wohl mächtigste Landtier. Als Symbol für urwüchsige Kraft spielte er in den Mythologien vieler Naturvölker eine wichtige Rolle, wurde auf zahlreichen Städte- und Landeswappen, etwa Mecklenburgs, verewigt. In den weltbekannten Höhlen von Lascaux haben ihn Steinzeitmenschen vor rund 17 000 Jahren auf die Wände gemalt.

Inwieweit die Bullen und Kühe auf Grosdanoffs Weide jedoch dem Urahnen aller heutigen Hausrindrassen tatsächlich entsprechen, ist schwer zu sagen. „Zu etwa 95 Prozent“, schätzt die Züchterin. Seit dem 17. Jahrhundert gilt der Auerochse als ausgestorben. 1627 soll die letzte Kuh im polnischen Jaktorów gestorben sein. Dort erinnert heute ein Denkmal an den letzten Auerochsen.

Die Wiederauferstehung des Urrinds ist den deutschen Brüdern Heinz und Lutz Heck zu verdanken. Die beiden Zoologen kreuzten in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts mehrere Rinderrassen, unter anderem englische Parkrinder, schottische Hochlandrinder und spanische Kampfstiere, auf ihren vermeindlichen Ursprung zurück, zogen dafür historische Aufzeichnungen zu Rate.

Auch Grosdanoffs Tiere stammen aus dieser Linie. „Ich schaffe damit ein Stück Ursprünglichkeit in unserer künstlichen sterilen Welt“, versucht die geborene Westberlinerin ihre Faszination für den Auerochsen zu beschreiben.

Christiane Grosdanoff ist eine von zwei Urrind-Züchtern in Brandenburg. Seit neun Jahren gehört sie dem Verein zur Förderung der Auerochsenzucht an. Geld verdient sie vor allem durch den Verkauf ihrer Tiere an Naturschutzgebiete oder Tierparks. „Für einen ausgewachsenen Bullen bekomme ich rund 1700 Euro. Eine Kuh bringt um die 750 Euro“, berichtet Grosdanoff. Mittlerweile grasen Auerochsen aus ihrer Zucht unter anderem in Schleswig-Holstein, am Bodensee, in Thüringen und bei Osnabrück. Insgesamt leben in Europa nach Vereinsangaben heute wieder rund 3000 Auerochsen, unter anderem in Belgien Frankreich, Lettland, Dänemark und Ungarn.

Geschätzt werden die Tiere vor allem als Landschaftspfleger. Wegen ihrer Robustheit können sie ganzjährig auf der Weide bleiben. „Im Winter füttere ich gelegentlich etwas Heu dazu“, sagt Grosdanoff. Als Fleischlieferant dagegen spielen sie in Sophiendorf keine große Rolle. „Vielleicht einmal im Jahr bestellen wir einen Jäger, der ein Tier erlegt“, erzählt die Züchterin. Das Fleisch sei sehr viel dunkler als das herkömmlicher Hausrinder, schmecke zudem eher wildartig.

Zuchtbulle Lulatsch muss sich deshalb wohl kaum Sorgen machen, irgendwann bei Grosdanoff auf dem Teller zu landen. Vielleicht ist sein Interesse an dem grünen Geländewagen auch deshalb nur flüchtig. Eine respekteinflößende Geste muss reichen. Schließlich gibt es wichtigeres zu tun für einen Zuchtbullen: Sich um Syöfu kümmern zum Beispiel. Die junge Kuh scheint es Lulatsch irgendwie angetan zu haben. „Kein Wunder, sie rindert, ist also paarungsbereit“, erklärt Christiane Grosdanoff.

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