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Ort des Missbrauchs.

© ddp

Von Ariane Bemmer, Patricia Hecht, Hannes Heine und Claudia Keller: Schläge auf den nackten Hintern

Ehemalige Schüler berichten / Ex-Schulleiter: Von Missbrauch nichts geahnt

Berlin - Der katholische Jesuitenorden kommt nicht zur Ruhe, die ehemaligen Schüler seiner Gymnasien auch nicht. Immer mehr Ex-Schüler des Berliner Canisius-Kollegs melden sich, wollen über ihre Zeit in dem Haus sprechen. Einer von ihnen berichtet, dass Schüler scheinbar grundlos ins Büro des Paters gerufen worden sind. Es habe deshalb Gerüchte gegeben – auch über sexuelle Handlungen. Prügelstrafen hingegen habe es aber ganz offen gegeben, auch nachdem sie in der Bundesrepublik 1973 verboten worden sind.

Ein Ehemaliger berichtet dieser Zeitung von einer „rigiden Stimmung“ und einem bedrückenden Klima. Heute 41 Jahre alt, hat Daniel Müller* am Casinius-Kolleg sein Abitur gemacht, von 1979 bis 1989 war er dort Schüler. „Gerüchte gab es im Prinzip die gesamte Schulzeit über“, sagt Müller. Sie hätten insbesondere einem der Pater gegolten. Einer seiner Mitschüler hätte Nachhilfe bei diesem Lehrer gehabt, „und da muss etwas gewesen sein.“ Der Mitschüler hätte jedoch nie darüber gesprochen – vermutlich aus Angst.

Ein Betroffener, der sich auf den aktuellen Brief des Rektors Klaus Mertes hin ebenfalls gemeldet hatte, sagt, er sei mehrfach von einem der beiden nun Beschuldigten missbraucht worden. Dieser Pater habe starken psychischen Druck auf ihn ausgeübt, so dass sich der Missbrauch über Jahre hinweg zog. Die Vorfälle hätten seine Schulzeit dort sehr geprägt – damals habe er jedoch mit niemandem darüber gesprochen. Später nahm der Mann, der noch in Berlin lebt, therapeutische Hilfe in Anspruch.

Ein anderer Ex-Gymnasiast, der heute in Berlin im mittleren Management eines Großunternehmens arbeitet, spricht von „echten Sadisten“ unter den Lehrern der Schule. Die Umgangsformen seien jedoch vor allem bei den Lehrkräften eisig gewesen. Ausgerechnet die zwei weltlichen, also nicht dem Orden angehörenden Lehrer seien anständig gewesen, berichtet der Mann. Geprügelt hätten auch Lehrer, die derzeit nicht wegen Missbrauchs in der Kritik stehen. Unter anderem ist ein inzwischen verstorbener Religionslehrer in den 60er Jahren offenbar mehrfach gewalttätig geworden. Schüler vor der ganzen Klasse mit bloßem Hintern über das Knie zu legen und zu „verdreschen“, sei üblich gewesen. Es habe aber auch unter Schülern einen Korpsgeist gegeben.

Über seine Zeit am Elitegymnasium erzählt auch ein früherer Rektor. Als Hermann Breulmann 1996 von Bonn nach Berlin zog und am Canisius-Kolleg anfing, habe er nicht nachgefragt, ob es schon mal irgendwelche Missbrauchsfälle gegeben habe. „Wenn ich heute eine Schule übernehmen würde, würde ich das natürlich fragen und mir Akten zeigen lassen. Aber Mitte der 90er Jahre hatten wir das Thema in Deutschland überhaupt nicht auf dem Schirm“, sagt Breulmann. Er sei in den Jahren zuvor viel in den USA gewesen. Dort sei man damals schon sensibler gewesen. „Ich habe das interessiert zur Kenntnis genommen, aber als typisch USA abgelegt.“ Ob er sich vorstellen kann, warum solche Vergehen jahrelang unentdeckt blieben? Ob zu sehr weggeschaut wurde innerhalb der Schule? Oder innerhalb des gesamten Ordens?

Als er ans Canisius-Kolleg kam, sei die Schule schon ein eigener „Biotop“ gewesen, sagt Pater Breulmann, „vergleichbar vielleicht mit der Landowsky-CDU“ – eine Anspielung auf den autoritären Charakter der Westberliner Christdemokraten. Die Lehrer seien häufig schon als Kinder auf die Schule gegangen, hätten dann in Berlin studiert und seien schließlich selbst wieder Lehrer am Kolleg geworden. Auch die Jesuiten kannten sich offenbar alle untereinander schon – die Rektoren vor ihm, Breulmann, seien alle aus Berlin und aus der östlichen Provinz des Ordens gekommen. Innerhalb dieses elitären bürgerlichen Biotops sei „vielleicht auch das Wegschauen begünstigt“ worden. Er sei der erste Rektor gewesen, der aus Westdeutschland hinzugekommen sei. Viele Abläufe in der Schule seien undurchsichtig gewesen, weshalb er Transparenz und klare Verfahrensregeln aufgestellt habe, etwa wenn ein Schüler entlassen werden sollte.

Dass Pater Wolfgang S. 1985 das Canisius-Kolleg in Richtung Chile verlassen habe, das wusste Pater Breulmann. Man hatte gehört, dass S. sich in eine Chilenin verliebt hatte. „Das kommt vor, damit gehen wir im Orden nüchtern um.“ 1992 habe S. dann um seine Entlassung aus dem Orden gebeten. Dass womöglich auch die begangenen Vergehen eine Rolle für das Absetzen nach Südamerika gespielt haben könnten, habe er nicht geahnt, sagt Pater Breulmann.

Über Ex-Lehrer Peter R., der ebenfalls verdächtigt wird, Schüler sexuell missbraucht zu haben, wisse Breulmann nur, dass er vom Kolleg aus an eine Jesuitenschule nach Hildesheim und Hamburg geschickt worden sei. Religionslehrer R. ist 1981 von der früheren Schulleitung für ungeeignet befunden worden, weiter mit Schülern zusammenzuarbeiten.

Erst am Donnerstag vergangener Woche klingelte beim damaligen Rektor des Kollegs, Karl-Heinz Fischer, in Emmerich am Rhein, ganz im Westen Deutschlands, das Telefon. Pater Fischer nahm den Hörer ab und erfuhr von einem alten Bekannten aus Berlin, was es in der Hauptstadt Neues gab.

Fischer war einer der Leiter des Canisius-Kollegs als die Missbrauchsfälle geschahen, in den Jahren 1981 bis 1989 und vertretungsweise in den 90er Jahren noch mal für zwei Jahre. Heute leitet er das katholische Stanislauskolleg Hoch Elten, ebenfalls ein Exerzitienhaus des Jesuitenordens. Auf Anfrage sagt Fischer, dass ihm neu sei, dass es am Canisius-Kolleg Missbrauch von Schülern durch Lehrer gegeben habe. Er könne das aber nicht ausschließen – selber sei er in seiner Zeit als Kollegleiter kaum mit dem Jugend- und Schulbereich befasst gewesen, sondern mehr mit Verwaltung und Technik. Seit seinem Abschied vom Kolleg habe er keinen Kontakt mehr zu dortigen Lehrern und Schülern.

Von dem Rundbrief des derzeitigen Kollegleiters Pater Klaus Mertes an 600 ehemalige Schüler mit dem Aufruf, Vorfälle zu melden, hat Fischer nach eigenen Angaben allerdings gewusst, wenn auch nicht den genauen Zeitpunkt, an dem das Schreiben versandt wurde. Mertes’ Anstrengungen zur Aufklärung hält er für gut, Aufklärung und Bereinigung seien wichtig. Dass sich am Freitag nach Bekanntwerden der ersten sieben Missbrauchsfälle noch 15 weitere Geschädigte gemeldet haben, habe ihn erstaunt, sagte Fischer und gab zu Bedenken, dass darunter vielleicht auch Mitläufer seien. Er schließe nicht aus, dass „die sich interessant machen wollen“.

* Name geändert

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