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Von Alexander Fröhlich: Wirtschaft fordert Radikalumbau

Der Druck auf die Landespolitik wächst, eine umfassende Kreisgebietsreform anzupacken. Kammern und Verbände halten neue, schlankere Strukturen für unumgänglich

Potsdam - Nach dem von Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) angekündigten Umbau Brandenburgs macht nun auch die Wirtschaft Druck und fordert eine umfassende Kreisgebietsreform. Verbände und Kammern halten eine neue Kreisstruktur im Land für unumgänglich, wie eine PNN-Umfrage ergab. Die Wirtschaftsvertreter warnten angesichts des drastischen Einwohnerschwunds in Brandenburg und wegen des Spardrucks in den Kassen der öffentlichen Hand vor weiteren Verzögerungen. Wir berichtet, soll eine mit Wissenschaftler und Abgeordneten besetzte Enquetekommission des Landtags Vorschläge für ein Umbau von Kommunalstrukturen erarbeiten.

René Kohl, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Potsdam, sagte: „Angesichts der demografischen Entwicklung sowie der Leistungsfähigkeit der Kommunen“ müssten „die Verwaltungsstrukturen zukunftsfähig gemacht und frei werdende Mittel für die Wirtschaft eingesetzt werden“. Wolfgang Krüger, Hauptgeschäftsführer der IHK Cottbus und Ex-Staatssekretär im einst CDU-geführten Wirtschaftsministerium, forderte „ einen Neuzuschnitt der Verwaltungseinheiten, eine umfassende Reform, um auf den demografischen Wandel reagieren zu können“. Es gehe „um überlebens- und leistungsfähige Gebietskörperschaften.“ Knut Deutscher, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Cottbus, erwartet, dass sich das Land „auf die veränderten Bedingungen einstellt“. Im Koalitionsvertrag der rot-roten Landesregierung habe er ein Passus für eine umfassende Reform vermisst. Daher begrüße er die nun von der SPD angestoßene Debatte. „Wir können in Brandenburg manches nicht mehr leisten, was wir lieb gewonnen haben.“ Deutscher warnte aber vor „kurzfristigen Lösungen“, er erwarte vielmehr „Mut und Visionen“ von der Landespolitik. Gundolf Schülke, Hauptgeschäftsführer der IHK Ostbrandenburg, forderte „zeitgemäße und effiziente Strukturen“. Ähnlich äußerte sich Christian Amsing, Hauptgeschäftsführer der Unternehmerverbände Berlin-Brandenburg, der nächste Woche die Studie „Demografie und öffentliche Haushalte bis 2030“ vorstellen will, in der es um „einschneidende Herausforderungen“ für Brandenburg und Berlin geht.

Verbände und Kammern hoffen auch auf auch weniger Bürokratie . „Im Zuge einer Reform müssen die Verwaltungen modernisiert und Prozesse wie Genehmigungsverfahren beschleunigt werden, das kommt Wirtschaft und Bürgern zugute“, sagte der Cottbuser IHK-Chef Krüger. Für größere Kreise müssten neue Ansätze gefunden werden, gerade der Ausbau der Breitband-Versorgung im Land werde in den nächsten Jahren „der elektronischen Verwaltung einen gewaltigen Schub geben“, wodurch Bürger mancher Gang in die Landratsämter erspart werden könnte. „Die Frage ist, wie Brandenburg zukunftsfest gemacht werden kann“, sagte Krüger. „Mecklenburg-Vorpommern hat mit den gleichen Problemen zu kämpfen und längst Antworten darauf gefunden.“

Und tatsächlich hinkt Brandenburg hinterher. Das Nachbarland im Norden ist einen Schritt weiter. Bereits 2004 hatte der Landtag in Schwerin ein radikales Reformpaket beschlossen, mit dem Zahl der 12 Kreise und 6 kreisfreien Städte auf vier bis sechs gesenkt werden sollte. Allerdings kassierte das Landesverfassungsgericht 2007 das Gesetz, weil die neuen Strukturen nicht bürgernah genug waren und Kreistagsabgeordnete in übergroßen Gebilde ihre Aufgabe nicht erfüllen könnten. Also besserte der Landtag nach und verabschiedete 2010 eine neue Reform, dass ab September greift. Dann wird es nur noch sechs Landkreise geben und zwei kreisfreie Städte. Mindestens 175 000 Einwohner sollen 2020 in den neuen Gebilden leben. Auch Sachsen ist weiter. Im Jahr 2008 sind 22 Landkreise auf zehn und die sieben kreisfreien Städte auf drei reduziert worden. 4,5 Millionen Einwohner leben im Freistaat, in Brandenburg nur 2,5 Millionen, verteilt auf 14 und damit deutlich mehr Landkreise. In Sachsen sind die Kreise weit schlagkräftiger, teilweise mit mehr als 300 000 Einwohner, selbst für das Jahr 2020 werden für die meisten Zahlen deutlich über 200 000 Einwohner prognostiziert. Über dieser Marke liegen in Brandenburg jetzt nur Potsdam-Mittelmark und Oberhavel, die meisten liegen darunter, die Prignitz hat nur noch 83 000 Einwohner.

Regierungschef Platzeck stapelt tiefer. Landkreise mit nur rund 60 000 Einwohnern könnten keinen Bestand haben, sagte er und blieb auch sonst vage: In zehn Jahren werde es höchstwahrscheinlich keine 14 Landkreise mehr geben, ebenso wenig wie vier kreisfreie Städte. Immerhin forderte Platzeck eine Beteiligung der Bürger an der Debatte. Die ist jedenfalls durch den Vorstoß der SPD Ende 2010 eröffnet. Bereits im März könnte der Landtag die Enquetekommission einsetzen.

Einige Akteure sind von der Dynamik überrascht worden, selbst die Linke, die noch in der Opposition mit eigenen Vorstößen gescheitert war und im Koalitionsvertrag nur einer Unterstützung freiwilliger Zusammenschlüsse zustimmte. Auch der Präsident des Landkreistages, Oberhavel-Landrat Karl- Heinz Schröter (SPD), ist verwundert. „Der Koalitionsvertrag schloss eine Kreisgebietsreform aus, die Fakten liegen schon seit Jahren auf dem Tisch.“ Schröter stellt nun klare Bedingungen: Erst müssen die jetzigen Strukturen analysiert werden, dann muss mit dem Kreisen „auf Augenhöhe“ über eine Gebietsreform verhandelt werden. „Das darf man nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden.“ Einwohnerzahlen und Flächen seien dabei zweitrangig, „wir müssen über die künftigen Aufgabenverteilung reden“.

Die Enquetekommission, angestoßen von der Jamaika-Opposition, der sich Rot-Rot schlecht verweigern kann, scheint Experten wie dem Verwaltungswissenschaftler Jochen Franzke von der Universität Potsdam der richtige Weg. Für den Staatsrechtler Thorsten Ingo Schmidt, wie Franzke für das Kommunalwissenschaftliche Institut in Potsdam aktiv, sind damit zentrale Vorgaben der Verfassungsrichter in Mecklenburg-Vorpommern erfüllt: Kreise und kreisfreie Städte müssen angehört werden und Alternativen zur Kreisfusionen abgeklopft werden.  

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