zum Hauptinhalt

Von Alexander Fröhlich und Matthias Matern: Jedes vierte Kind lebt von Hartz IV

Politiker und soziale Organisationen im Land Brandenburg begrüßen Urteilsspruch zu Regelsätzen

Von

Potsdam - Für rund 65 000 Kinder und ihre Eltern im Land Brandenburg könnte sich durch den Richterspruch von Karlsruhe die finanzielle Situation künftig zumindest etwas entspannen. Um bis zu zehn Prozent je Altersgruppe könnten die staatlichen Zuschüsse nach der angeordneten Neuberechnung der bedarfsgerechten Regelsätze steigen, schätzt Sozialwissenschaftler Professor Gerhard Nothacker vom Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Potsdam. Nun sei ein „hartes Zerren zwischen dem Bund, den Ländern und den Kommunen um die zusätzlichen Kosten“, zu erwarten, meinte der Wissenschaftler am Dienstag gegenüber den PNN. Allerdings sei das Urteil der Verfassungsrichter „keine Überraschung und durchaus absehbar gewesen“, sagte Nothacker weiter. „Man hat einfach so getan, als seien Kinder kleine Erwachsene. Kindtypische Bedürfnisse wurden nicht berücksichtigt.“

Sowohl seitens der Politik als auch bei Sozialverbänden und wohltätigen Einrichtungen im Land Brandenburg stieß der Richterspruch gestern auf Zustimmung. Angaben der Bundesagentur für Arbeit zufolge sind landesweit rund 170 000 sogenannte Bedarfsgemeinschaften auf die Zuschüsse nach den Hartz-IV-Regelsätzen angewiesen. Das brandenburgische Sozialministerium geht davon aus, dass etwa jedes vierte Kind im Land betroffen ist. Damit liegt Brandenburg zwar hinter der Stadt Bremerhaven, wo Experten zufolge jedes dritte Kind in einer Hartz-IV-Familie aufwächst, doch auch deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Deutschlandweit leben etwa 16 Prozent aller Kinder von Sozialgeld nach Hartz IV.

Endlich bestehe Klarheit zu den Sozialleistungen, kommentierte Brandenburgs Sozialminister Günter Baaske (SPD) den Richterspruch. „Für Kinder und Jugendliche entstehen durch Schule und Freizeit besondere Ausgaben, die völlig zu Recht berücksichtigt werden müssen“, sagte Baaske weiter. Neben der Methode der Festlegung der Regelsätze für Kinder, welche die Richter als Schätzung „ins Blaue hinein“ verurteilten, deuteten die Verfassungshüter außerdem an, dass sie außerdem die Höhe bisherigen Zuweisungen für zu niedrig halten, da wenigstens ein „Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe“ garantiert sein müsse.

Für Andreas Kaczynski, Vorstandsvorsitzender des Landesverbandes Brandenburg im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, ein bemerkenswertes Signal. „Es war damit zu rechen, dass die Art der Festlegung bemängelt wird. Dass auch die Richter die Höhe beanstanden, ist für mich eine positive Überraschung“, sagte Kaczynski. „Ich bin sehr befriedigt. Was Kinder verschiedener Alterstufen für Bedürfnisse habe, sei nie berücksichtigt worden.“ Bislang stünden Hartz-IV-Familien pro Kind und Monat zum Beispiel rund 62 Cent für Spielzeug zur Verfügung. „Das ist ein Witz“, spottete der Vorstandsvorsitzende. Bereits 2008 habe der Paritätische Wohlfahrtsverband einen praktikablen Berechnungsmodus vorgeschlagen. Dieser aber sei seitens der Bundesregierung komplett ignoriert worden, sagte Andreas Kaczynski.

Erleichtert über das Urteil der Verfassungsrichter zeigte sich gestern auch Marlies Kuhl, Geschäftsführerin der brandenburgischen Stiftung Familien in Not. „Wenn sich Kinder aus Hartz-IV-Familien am gesellschaftlichen Leben beteiligen können und gleiche Bildungschancen haben sollen, dann haben die bisherigen Zuschüsse nicht gereicht“, sagte Kuhl. So seien etwa allein für die Erstausstattung zum Schulanfang pro Kind im Schnitt 200 Euro fällig.

Nach Wahrnehmung der FDP Brandenburg dagegen haben die Verfassungsrichter die Höhe der Regelsätze gar nicht kommentiert. Lediglich die Berechnung sei kritisiert worden, so Andreas Büttner, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im brandenburgischen Landtag. Es sei zwar wichtig und richtig, dass „gesellschaftliche Teilhabe sicher gestellt“ werden müsse, gleichzeitig aber, mahnte Büttner, bleibe „oberstes Ziel, dass die Betroffenen nicht dauerhaft von Transferleistungen leben müssen“. Benötigt würden deshalb vor allem Bildungsangebote, um den Menschen neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen, sagte der brandenburgische FDP-Abgeordnete.

Nach Angaben der Arbeitsagentur leben in Brandenburg knapp 300 000 Hartz-IV-Empfänger. Im benachbarten Berlin sind es knapp 600 000. „Für die Bundesregierung ist dieses Urteil eine heftige Klatsche. Dem Bund wird bescheinigt, nicht seriös das Existenzminimum berechnet zu haben“, kommentierte Berlins Wirtschaftssenator und Bürgermeister Harald Wolf (Linke) das Urteil von Karlsruhe. Parteifreundin und Sozialsenatorin Carola Bluhm sprach sich zudem für eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze aus. „Es geht nicht nur darum, die Berechnung der Regelsätze transparent zu machen. Es geht ganz klar darum, sie zu erhöhen.“

Im brandenburgischen Sozialministerium ist man bereits am Rechnen. Die künftigen Regelsätze könnten dazu führen, dass deutlich mehr Menschen, vor allem Familien, in das System hineinrutschen, da ihre Einkünfte dann unter den neuen Sätzen liegen könnten, schlussfolgerte Minister Baaske.

Karl-Ludwig Böttcher, Geschäftsführer des brandenburgischen Städte- und Gemeindebundes, sagt aber, die Mehrkosten seien überhaupt noch nicht abzusehen, „wir wissen nicht, wie das durchschlägt“, besonders bei den Wohnkosten. Schon jetzt seien aber die Leistungen des Bundes unterfinanziert, erst kürzlich sei der Anteil des Bundes für die Unterbringung von Hartz-IV-Empfängern von 26 auf 23 Prozent gesenkt worden. Daher sei zu befürchten, dass die Kommunen bei einer Anhebung der Regelsätze weiter „bluten werden“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false