zum Hauptinhalt
Häftlinge beim Freigang. Der Stasi-Knast Bautzen II war eine Sonderhaftanstalt vom Ministerium für Staatssicherheit und wurde im Jahr 1956 als Hochsicherheitstrakt mit 200 Haftplätzen für Regimekritiker, Gefangene aus Westdeutschland, Spione oder Kriminelle mit prominentem Sonderstatus ausgebaut.

© Werner Schulze/imago

Verrat rekonstruiert: Gefängnispfarrer berichtete 30 Jahre an die Stasi

Er war der einzige hauptamtliche Gefängnispfarrer in der DDR: Eckart Giebeler spitzelte von 1959 bis 1989 auch für die Stasi. Marianne Subklew-Jeutner schrieb ein Buch über ihn.

Er hätte eine Vertrauensperson sein sollen. Ein Mensch, dem man in schwierigen Situationen sehr Persönliches erzählen kann. Einer, von dem seine Gesprächspartner erwarten durften, dass er über den Inhalt der Unterredungen schweigt. Doch stattdessen berichtet der Gefängnispfarrer fleißig an die Stasi, nutzt das Vertrauen aus, das ihm die Gefangenen entgegenbringen. So schreibt der Informelle Mitarbeiter (IM) „Roland“ im Juni 1989 einen Spitzelbericht, in dem es heißt, die Eltern und Geschwister eines bestimmten Strafgefangenen lebten „am Rande der Kriminalität“, der Inhaftierte selbst spiele „oft mit seinem Geschlechtsteil“, verspüre Juckreiz und Nervosität. Über einen anderen Häftling weiß der Pfarrer zu berichten, dass dieser heiraten wolle – allerdings eine Frau, die „bisweilen lesbische Ambitionen“ habe. An anderer Stelle berichtet der Geistliche an die Stasi, ein namentlich benannter Inhaftierter mache „einen einsichtigen Eindruck“ – fügt jedoch hinzu, dies könne auch gespielt sein.

Betrug und Selbstbetrug

Die unglaubliche Geschichte des Eckart Giebeler, dem einzigen hauptamtlichen Gefängnispfarrer in der DDR, hat jetzt die Theologin und Politikwissenschaftlerin Marianne Subklew-Jeutner genau erforscht und aufgeschrieben. In ihrem Buch „Schattenspiel“ zeichnet sie ein Panorama von Betrug und wohl auch Selbstbetrug jenes Geistlichen aus Brandenburg an der Havel, der von 1959 bis 1989 aus mehreren Knästen der DDR heraus für die Stasi spitzelte. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit war im Gefängnis Brandenburg-Görden. Auch Pfarrkollegen, die größtenteils außerhalb der Gefängnismauern agierten, spioniert er aus, teilt sie gegenüber der Stasi in „progressiv“ und „reaktionär“ ein. Giebeler scheut sich gegenüber dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nicht, selbst die Ehen seiner Berufskollegen zu bewerten. Er berichtet dem Geheimdienst, wie andere Pfarrer über die oppositionelle Solidarnosc-Bewegung in Polen oder das Schulfach „sozialistische Wehrerziehung“ denken.

Marianne Subklew-Jeutner.
Marianne Subklew-Jeutner.

© privat

Subklew-Jeutner konnte für ihre Forschungen auf Stasiunterlagen zurückgreifen. Von den 15 Berichtsakten, die es wohl einst gegeben hat, konnte nach dem Ende der DDR aber nur eine einzige aufgefunden werden. Sie gibt Auskunft über die Treffen des Pfarrers mit seinem Führungsoffizier ab Juni 1989. Das letzte dokumentierte Treffen mit Giebeler alias IM „Roland“ fand am 23. November 1989 – also zwei Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer – statt. 30 Jahre zuvor, am 29. Mai 1959, habe „sich Eckart Giebeler in seinem Arbeitszimmer im Gefängnis Brandenburg durch Handschlag zur Zusammenarbeit mit dem MfS“ verpflichtet, schreibt Subklew-Jeutner.

276 Stasi-Treffen nachweisbar

Auch wenn 14 Berichtsakten nun fehlen, können heute dennoch die 30 Jahre, in denen Eckart Giebeler für die Stasi spitzelte, zum Teil rekonstruiert werden, weil es entsprechende Informationen in anderen Stasiakten gibt. Laut Subklew-Jeutner traf sich IM „Roland“ durchschnittlich zwölf bis 15 Mal im Jahr mit den Stasileuten. Demnach lassen sich 276 solcher Treffen von 1959 bis 1989 nachweisen. Man traf sich in einem Zimmer im Gefängnis von Brandenburg an der Havel, in der Wohnung des IM oder auch in konspirativen Wohnungen sowie notfalls in Autos oder Gaststätten. Als IM „Roland“ verfasste Giebeler schriftliche Berichte und besprach Tonbänder, die er dann bei den Treffen mit seinem jeweiligen Führungsoffizier übergab. Bei besonderen Ereignissen, wie zum Beispiel Wahlen, rief IM „Roland“ seinen Führungsoffizier an, um zum Beispiel das Wahlverhalten seiner Pfarrerkollegen sogleich an das MfS zu melden.

Nach dem Untergang der DDR, so Subklew-Jeutner, habe Giebeler behauptet, es sei ihm gar nicht bewusst gewesen, dass seine Gesprächspartner Mitarbeiter des MfS waren. Doch die Autorin widerlegt diese gespielte Ahnungslosigkeit mit einem von Giebeler selbst verfassten Schreiben, das bereits aus dem Jahre 1967 stammt. Darin beklagt sich der Pfarrer zunächst, dass seine Gespräche mit Gefangenen im Gegensatz zur bisherigen Praxis künftig nicht mehr unter vier Augen stattfinden dürften. 15 Jahre lang habe er „die Einzelseelsorge mit Strafgefangenen ohne Aufsicht“ durchgeführt. Das wolle er auch weiterhin so handhaben. Seinen Wunsch nach Vier-Augen-Gesprächen begründet er unter anderem mit diesem verräterischen Satz: „Eine große Anzahl von Dingen, die in den Aussprachen ans Tageslicht kamen, konnten dem MfS zur Bearbeitung unterbreitet werden.“ Giebeler wusste also sehr wohl, mit wem er sich eingelassen hatte. Die Einzelgespräche wurden ihm dann auch weiterhin erlaubt.

„Reaktionäre Schweine“

„In den ersten Jahren nach seiner Anwerbung berichtete IM ’Roland’ vornehmlich über den Pfarrkonvent in Brandenburg, über den Generalkonvent, über Kreis- und Landessynoden, über die Berlin-Brandenburger Landeskirche und deren kirchenpolitische Handlungsoptionen gegenüber Staat und Partei, über Amtskollegen sowie den Konvent der Gefängnisseelsorger“, schreibt Subklew-Jeutner. Den Forschungen der Autorin zufolge hatte der 1925 in Berlin geborene Giebeler 1959 bereits einen Monat vor seiner Verpflichtung als IM gegenüber der Stasi einen ihm bekannten Pfarrer als jemanden charakterisiert, der „in jeder Weise versucht, seine negative Einstellung zu unserem Staat zum Ausdruck zu bringen“. Einige Pfarrer bezeichnete er demnach bereits zu diesem frühen Zeitpunkt gar als „reaktionäre Schweine“.

Und die Stasi wiederum hält über die Jahre hinweg große Stücke auf ihren Zuträger, der in mindestens zwölf Haftanstalten als Seelsorger arbeitete. Seine „Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und hohe Einsatzbereitschaft“ werden gelobt. Roland gehöre „zweifelsfrei zu den Spitzenkräften im Netz“, heißt es in einer weiteren Einschätzung. Und diesen treuen Mitarbeiter lässt sich die Stasi einiges kosten. Allein für den Zeitraum von 1983 bis 1989, so Subklew-Jeutner, sind Zahlungen an Giebeler in Höhe von 20 500 Mark belegt. Die Anerkennung der Stasi wird Giebeler auch in Form von Auszeichnungen zuteil. Unter anderem erhält er die Verdienstmedaille der DDR und den Vaterländischen Verdienstorden in Silber. Zum 20. Jahrestag der DDR, am 7. Oktober 1969, wird er für seine Leistungen zur „Sicherung unserer Republik“ mit einer Prämie von 200 Mark ausgezeichnet. Das entsprechende Ehrungsschreiben der Bezirksverwaltung Potsdam des MfS nennt ausdrücklich Eckart Giebeler als denjenigen, dem die Ehrung zuteil werden soll. Dieses Schreiben nimmt „Roland“ mit seiner Unterschrift zur Kenntnis. Giebeler sei demnach sein Deckname bekannt gewesen, schreibt Subklew-Jeutner.

Fragebogen verweigert

Und diese vertrauensvolle Zusammenarbeit des Pfarrers mit dem angeblichen Arbeiter- und Bauernstaat hätte wohl noch einige Jahre angedauert, wäre nicht die SED-Diktatur vom wirklichen Volk aus den Schaltzentralen der Macht hinaus ins Geschichtsbuch gejagt worden. Giebeler jedenfalls erklärt Ende der 1980er Jahre, als die DDR noch zukunftssicher schien, dass er auch nach Erreichen des Rentenalters im Jahre 1990, also über das 65. Lebensjahr hinaus, mindestens drei weitere Jahre im Amt bleiben wolle. So findet sich Giebeler, der zu DDR-Zeiten nicht bei der Kirche, sondern beim Staat angestellt war, nach dem Untergang der DDR als Bediensteter des frisch gegründeten Landes Brandenburg wieder. Anfang 1991 erhält er vom Justizministerium, seinem neuen Arbeitgeber, den Stasi-Fragebogen der Gauck-Behörde. Giebeler füllt das Papier nicht aus, beruft sich stattdessen darauf, er gehöre nicht zur Justiz, sondern zur Kirche. Auch wenn dies juristisch nicht stimmte, hat er damit zunächst Erfolg. Das Justizministerium habe seine Weigerung „zwar irritiert zur Kenntnis genommen, aber bis zum 9. Oktober 1992 stillschweigend akzeptiert“, schreibt Subklew-Jeutner.

Doch dann gibt es eine heftige Zäsur. Am 9. Oktober 1992 soll in der ARD ein Film ausgestrahlt werden, in dem es um die Betreuung politischer Häftlinge in der DDR durch die Kirchen geht. Einen Tag zuvor informieren die Filmemacher Andreas Beckmann und Regina Kusch das Justizministerium über die bevorstehende Ausstrahlung des Films und legen Dokumente vor, die Giebeler belasten. Es werden unter anderem Kopien von Stasiberichten mit Giebelers Unterschrift präsentiert. Nun geht alles sehr schnell. Giebeler wird für den Folgetag, also den 9. Oktober, ins Ministerium einbestellt. Man legt ihm einen Aufhebungsvertrag vor, den er noch an diesem Tag unterschreibt. Mit Wirkung zum 10. Oktober 1992 ist der Gefängnispfarrer, der drei Tage später 67 Jahre alt wird, seinen Job los.

Giebeler leugnete bis zum Schluss

In der Öffentlichkeit behauptet Giebeler dennoch, nie für die Stasi gespitzelt zu haben. Seine Sicht der Dinge legt er in seiner 1992 erschienenen Autobiografie „Hinter verschlossenen Türen“ dar. Und er antwortet auch auf Anwürfe gegen ihn in der Presse. Seine Unterschrift in den Stasiakten sei gefälscht, die Tonbänder habe er nicht willentlich besprochen. Vielmehr sei er abgehört worden. Doch die Akten des MfS widerlegen seine Behauptungen. Zu eindeutig und belastend ist die nachweisbare Verbindung zwischen der Person Eckart Giebeler und IM „Roland“. Kirchenrechtliche Konsequenzen hat das jahrzehntelange Doppelleben für den Gefängnispfarrer indes nicht. Nachdem sich Mitte der 1990er Jahre der Stasi-Überprüfungsausschuss der Landeskirche zunächst mit Giebeler beschäftigt, erklärt er sich dann jedoch als nicht zuständig, da der Pfarrer in der fraglichen Zeit nicht im kirchlichen Dienst gestanden habe. Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Neuruppin gegen Giebeler wird im Jahre 2000 gegen Zahlung von 1200 DM eingestellt. In diesem Verfahren ging es um den Vorwurf, der Pfarrer habe 1985 ein Testament, das ihm ein Gefangener anvertraut hatte, an die Stasi weitergegeben. Als der Inhaftierte später Giebeler bat, das Testament zu vernichten, habe dieser wahrheitswidrig behauptet, das Testament zwischenzeitlich vernichtet zu haben.

Warum Giebeler, der 2006 starb, als ordinierter Pfarrer und per Handschlag verpflichteter Stasi-Zuträger quasi Diener zweier Herren war, darüber kann auch Subklew-Jeutner nur spekulieren. Vielleicht sei es das Gefühl gewesen, wichtig zu sein, auch die materiellen Anreize hätten womöglich eine Rolle gespielt, vermutet die Autorin. Und dann hat sie noch eine weitere mögliche Erklärung parat, mit der die Widerlichkeit des Verrats vielleicht in einem etwas milderen Licht erscheint: „Es kann sein, dass er die DDR als ersten deutschen Friedensstaat gesehen hat.“

Schattenspiel. Pfarrer Eckart Giebeler zwischen Kirche, Staat und Stasi. Marianne Subklew-Jeutner, Metropol Verlag. 456 Seiten, 24 Euro. ISBN 978-3-86331-498-9

Zur Startseite