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Schrittweise geht die Suche nach Rebecca im Wald bei Storkow voran.

© P. Pleul/dpa

Vermisste Rebecca aus Berlin: Ein Fall voller Widersprüche

Hunderte Hinweise hat die Polizei erhalten – doch Rebecca bleibt vermisst. Ist sie längst tot? Ihre Familie hält zum einzigen Verdächtigen. Es heißt: So etwas hat Berlin noch nicht erlebt.

Berlin/Storkow - Es ist 11 Uhr, Kummersdorf, 500 Einwohner, 50 Kilometer südöstlich von Berlin, ein dutzend Polizeiwagen rauscht über das Kopfsteinpflaster. Kurz hinter dem Ortsschild in Richtung Wolzig stoppen sie an der Landstraße, ein matschiger Schlaglochweg führt in den Wald. Ein Hubschrauber kreist über dem Waldstück. Liegt hier die Leiche von Rebecca Reusch, der 15 Jahre alten Berliner Schülerin, vermisst seit dem 18. Februar?

Die Mordkommisson geht davon aus, dass Rebecca nicht mehr am Leben ist

Eine Hundertschaft, etwa 60 bis 70 Beamte, beginnt die Suche im Wald, Leichen- und Personenspürhunde sind dabei. Auch die Ermittler der dritten Mordkommission des Landeskriminalamtes und die Kriminaltechnik rücken an. „Für den Fall der Fälle“, sagt eine Polizeisprecherin. Sie spricht nicht aus, was jeder versteht. Die Mordkommisson geht davon aus, dass Rebecca nicht mehr am Leben und Opfer eines Tötungsdeliktes geworden ist.

Vor drei Wochen hat die 15-Jährige das Wochenende bei ihrer Schwester und deren Mann in Neukölln verbracht. Am Montagmorgen, 18. Februar, kam sie nicht in ihrer Schule an. Das Vermisstenkommissariat der Polizei wurde eingeschaltet.

2018 gab es in Berlin etwa 12 000 Vermisstenfälle, darunter rund 1300 Kinder und gut 4000 Jugendliche. Die meisten tauchten nach kurzer Zeit wieder auf.

Die Grenzen zwischen dem Realen und dem Virtuellem verschwimmen

Vier Tage nachdem Rebecca verschwunden war, veröffentlicht die Polizei den ersten Suchaufruf und Fotos der Jugendlichen. Ab hier entspinnt sich eine Tragödie, von dem Polizisten und Strafverteidiger sagen: Das hat Berlin noch nicht erlebt. Die Grenzen zwischen dem Realen und dem Virtuellem verschwimmen, zwischen den Grundsätzen des Rechtsstaats und dem Druck der Öffentlichkeit. Das Fernsehen zeigt Live-Berichte und Sondersendungen, aus den Ermittlungsakten werden Details publik, die es nicht werden dürften. Und Rebeccas Familie breitet ihr Leben aus.

Das meistgedruckte Bild von Rebecca, herausgegeben von der Polizei, bereitgestellt von der Familie, zeigt nicht Rebecca Reusch, es zeigt eine Kunstfigur, die sich das Mädchen für ihren Instagram-Account erschaffen hat. Mit Apps lässt sich das leicht machen: die Lippen voller, die Augen größer, die Haut glatt, Lolita-Look. Es gibt noch andere Bilder des Mädchens, aber dieses eine hat sich eingebrannt ins Gedächtnis.

Mittels Flugblättern wurde Rebecca gesucht.
Mittels Flugblättern wurde Rebecca gesucht.

© Christoph Soeder/dpa

Am Freitag, 22. Februar, übernimmt die Mordkommission den Fall. Eine Woche später erfolgt die nächste Mitteilung – nun ist die Staatsanwaltschaft Herrin des Verfahrens. Rebeccas 27 Jahre alter Schwager wird wegen „nicht aufzuklärender Widersprüche zwischen seinen Angaben und den neuesten Ermittlungsergebnissen“ festgenommen, stundenlang vernommen. Genau eine Woche später durchsuchen Kriminaltechniker das Haus, in dem der Schwager und Rebeccas älteste Schwester leben. Nach einer Nacht im Gewahrsam der Polizei muss der Mann, ein Koch, wieder freigelassen werden. Für eine Untersuchungshaft reichen dem Haftrichter die Beweise nicht.

Schwager wird wieder festgenommen

Am Montag, 4. März, Rebecca wird seit zwei Wochen vermisst, folgt der nächste Schlag. Am Nachmittag meldet die „Bild“-Zeitung, sie habe aus Justizkreisen erfahren, dass die Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen die Entscheidung des Haftrichters einlegen will. Wenig später wird der Schwager wieder festgenommen: Die Ermittler rücken in den frühen Abendstunden am Arbeitsplatz des Mannes an – angeblich ein Hotel in der Berliner City-West – und führen ihn ab. Der Richter hat doch noch einen Haftbefehl „wegen des dringenden Tatverdachts des Totschlags“ erlassen. Weitere Details werden an die Medien lanciert, etwa dass die Kriminaltechniker im Auto des Schwagers Haare von Rebecca und Fasern einer Fleecedecke gefunden haben, die mit dem Mädchen aus dem Haus verschwunden ist. Beides lag im Kofferraum.

Solch eine Fleecedecke soll mit Rebecca das Haus verlassen haben.
Solch eine Fleecedecke soll mit Rebecca das Haus verlassen haben.

© Polizei Berlin/dpa

Das Auto, ein himbeerroter Twingo, spielt eine entscheidende Rolle. Am Mittwoch veröffentlichen Staatsanwaltschaft und Polizei neue Fotos, vom Twingo, von der Fleecedecke und gleich drei vom Schwager. Das ist ungewöhnlich, Polizisten sagen sogar: Das ist einmalig. In der Regel verbreitet die Polizei Fotos von Menschen, die vermisst und gesucht werden, oder von Verdächtigen, nach denen gefahndet wird – aber nicht von Verdächtigen, die bereits gefasst sind. Egal, ob Florian R. jemals vor Gericht schuldig gesprochen wird – das Internet vergisst nicht. Sein Gesicht steht jetzt für das Böse. Die Unschuldsvermutung bis zur rechtskräftigen Verurteilung, ein Kernbestand des deutschen Rechtssystems, ist längst ausgehebelt. Dieser Tage sind Gespräche wie jenes an Bushaltestellen oder in U-Bahnen nichts ungewöhnliches: „Der sieht schon so aus, der hat das Mädchen umgebracht.“

Das Foto der Polizei zeigt einen Renault Twingo, der nach Polizeiangaben am Morgen des Verschwindens von Rebecca und am Abend des nächsten Tages auf der Autobahn zwischen Berlin und Richtung Frankfurt/Oder erfasst wurde.
Das Foto der Polizei zeigt einen Renault Twingo, der nach Polizeiangaben am Morgen des Verschwindens von Rebecca und am Abend des nächsten Tages auf der Autobahn zwischen Berlin und Richtung Frankfurt/Oder erfasst wurde.

© Polizei Berlin/dpa

Polizei und Staatsanwaltschaft suchen mit den Fotos nach Zeugen, die den Mann oder das Auto gesehen haben. Denn am Vormittag des 18. Februar, als Rebecca verschwand, wurde der Twingo registriert. Der Wagen war auf der A12 zwischen Berlin und Frankfurt (Oder) unterwegs – um 10.47 Uhr und am Folgetag um 22.39 Uhr. Ganz nebenbei verrät die Staatsanwaltschaft, dass die Brandenburger Polizei an der A12 ein Kennzeichenerfassungssystem betreibt. Damit werden Autodiebe geschnappt, es hilft, wenn nach Verbrechern gefahndet wird. Schlimmer hätte es für Brandenburgs Polizei nicht kommen können, die ganze Republik interessiert sich für den Fall Rebecca und weiß nun: Wer eine Leiche im Kofferraum hat, sollte nicht über die A12 fahren, sondern die Landstraße nehmen.

Saß Rebeccas Schwager überhaupt am Steuer?

Ob Florian R. überhaupt am Steuer saß, weiß niemand. Die Kesy-Kameras sind keine Blitzer, sie erfassen die Nummernschilder nur von hinten, Fahrer und Frontseite werden nicht fotografiert. Doch die Staatsanwaltschaft erklärt: „Nach bisherigem Ermittlungsstand hatte zu diesen Zeiten ausschließlich Rebeccas Schwager Zugriff auf diesen Pkw.“

Florian R. schweigt zu den Vorwürfen, sagt die Staatsanwaltschaft. Aber sein Schwiegervater äußert sich vor den Kameras – nicht nur einmal. Die Familie glaubt demnach an die Unschuld des 27-Jährigen. Es gebe andere Gründe für die Fahrten, er dürfe aber nicht darüber reden. „Die ganze Nummer hängt mit einer anderen Sache zusammen, die ich aber nicht sagen darf“, sagt der Vater dem Sender RTL. Sein Schwager müsse endlich reden. Auch wenn in solchen Fällen mit jedem Tag die Wahrscheinlichkeit sinkt, Vermisste noch lebend zu finden, hoffen die Angehörigen weiter, dass Rebecca noch am Leben ist. Staatsanwaltschaft und Polizei haben zunächst Verständnis für die Offenheit der Familie, sind später zunehmend gereizt. Das sei nicht hilfreich für die Ermittlungen, Täterwissen könnte preisgegeben werden.

Die Fairness des Verfahrens wird beschädigt

Wird Florian R. möglicherweise falsch verdächtigt? Cäcilia Rennert ist jedenfalls entsetzt. Sie sitzt im Vorstand der Vereinigung Berliner Strafverteidiger und beklagt, der Beschuldigte werde von den Medien vorverurteilt durch eine „Treibjagd im Live-Tickermodus“, wilde Spekulationen und sich aufschaukelnde Sensationslust. Die Fairness des Verfahrens werde irreparabel beschädigt – auch durch Ermittler der Polizei, die Details aus den Ermittlungsakten durchstechen würden. Tatsächlich kann all das einen späteren Prozess belasten, welcher Zeuge kann sich Monate später noch daran erinnern, was er wann wo gehört hat – und ob er es möglicherweise doch nur aus den Medien weiß?

Die Polizeiführung ist wenig begeistert. Gerade die Mordkommissionen seien extrem verschwiegen, jedes Detail zu viel, das an die Öffentlichkeit gerät, gefährde den Erfolg. Das wolle niemand riskieren, gerade nicht Mordermittler, Beamte von einem besonderen Schlag, die kein anderes Leben haben und auch mal auf der Pritsche im Büro schlafen. In der Polizei wird das Leck bei der Staatsanwaltschaft vermutet.

Der Fall bei „Aktenzeichen XY … ungelöst“

Bis Freitag gehen mehr als 700 Hinweise bei der Polizei ein, die Hälfte davon seit Mittwochabend, als der Chef der 3. Mordkommission des Landeskriminalamtes in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ auftritt. Michael Hoffmann, ein erfahrener Ermittler mit Brille und akkuratem Kurzhaarschnitt, sagt, es gebe zwei „zwei seltsame und klärungsbedürftige Fahrten mit dem Auto des Schwagers. Zu beiden Fahrten kann er keine Angaben machen. Die Fahrten passten aber überhaupt nicht zu der Version, die dieser erzählt habe. Er komme „zu dem Schluss, das Rebecca das Haus des Schwagers nicht verlassen haben dürfte“. Der Schwager sei mit ihr zu fraglichen Tatzeit allein im Haus gewesen.

Einer der zahlreichen Hinweise hat die Polizei in den Wald bei Kummersdorf geführt. Der Aufwand ist enorm. Am Freitag sind sogar zwölf Hunde im Einsatz, jeweils zwei kommen aus Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Sechs Leichenspürhunde sind vor Ort, auch Mantrailerhunde, die über lange Strecken und noch Tage später Spuren von Menschen verfolgen können, werden an den Autobahnabfahrten eingesetzt.

Erfolglose Suche im Wald

In Kummersdorf befragt die Polizei Anwohner. Einige Jugendliche kommen auf ihren Fahrrädern aus dem Ort angefahren, endlich ist etwas los hier. Am Nachmittag tauchen auch drei Frauen auf. Sie gehören zu einer Reitergruppe und wollen am Tag, als Rebecca verschwand, den Schwager im Wald gesehen haben. Eine der Frauen steigt mit den Ermittlern in den Wagen und führt sie zu der Stelle. Die Hundertschaft wird zusammengezogen, sie sucht das Gebiet ab. Ohne Erfolg.

Eine Hundertschaft der Berliner Polizei ist nach Brandenburg ausgerückt, um bei Storkow (Oder-Spree) ein Waldstück nach der vermissten Rebecca abzusuchen.
Eine Hundertschaft der Berliner Polizei ist nach Brandenburg ausgerückt, um bei Storkow (Oder-Spree) ein Waldstück nach der vermissten Rebecca abzusuchen.

© Patrick Pleul/dpa

Am Waldweg lehnen sich derweil die Ermittler der Mordkommission an ihren Wagen. Sie unterhalten sich, rauchen, warten. Die Stunden vergehen, es ist ein Geduldspiel. Nur einmal bewegt sich etwas im Wald. Es raschelt, dann springt ein Kaninchen über den Weg.

„Das ist schon ziemlich abgelegen, da kann man in Ruhe jemanden begraben“

Am frühen Abend kommt ein Mann mit seinem Rad aus dem Wald. Er heißt Wolfgang Noack und ist von hinten, an der Polizeiabsperrung vorbei in den Wald gefahren. Ob er sich vorstellen könne, dass Rebecca dort irgendwo begraben liegt? „Das ist schon ziemlich abgelegen, da kann man in Ruhe jemanden begraben“, sagt der Rentner. Als es dunkel wird, bricht die Polizei die Suche ab. Beamte kommen mit Spaten und Stäben aus dem Unterholz, verschwinden wortlos in ihren Einsatzwagen. Ein Polizisten warnt: „Gehen Sie nicht in den Wald. Da gibt es Wildschweine.“

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