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Liebt seine Lieder. Die Musik hält Karsten Troyke jung. Alle Seiten des Lebens stecken in den jiddischen Songs.

© Doris Spiekermann-Klaas

Brandenburg: Vergessene Lieder

Überlebende der Schoah halfen Karsten Troyke beim Sammeln jiddischer Lieder – er singt sie seit 30 Jahren

Rappelvoll ist das „Ballhaus Berlin“. Sogar auf der Wendeltreppe zur Galerie des legendären Tanzsaales aus den Zwanzigern an der Chausseestraße drängeln sich die Fans. Gleich geht’s los: jiddische und hebräische Lieder, Tangos und Walzer, Gipsy-Swing, Klezmer. Interpretiert von einem der europaweit bekanntesten Sänger dieses Genres, Karsten Troyke aus Berlin. Aber – wo bleibt er denn?

Durchs Publikum schlendert ein jugendlicher Typ. Plaudert, lacht, Küsschen hier, Umarmung da. Schwarze Jeans, weißes Hemd, sinnliche Lippen, rötlicher Wuschelkopf, die bunt getupfte Krawatte so locker gebunden, als hätte er arge Zweifel, ob sie wirklich zu ihm passt. Fehlt nicht viel, dass er noch rasch ein paar Stühle heranschleppt, damit auch jeder gemütlich sitzen kann.

Dann aber, so fast nebenbei, nimmt er mit einem Sprung die Stufen zur Bühne. Trio Scho, seine ukrainischen Musiker legen los mit Geige, Akkordeon und Bass – und Karsten, der Mann mit der rauen, irgendwie archaischen Stimme, hebt die Arme, seine Hände erzählen, er wiegt sich im Tango-Rhythmus. Karsten ist bei sich und das Publikum bei ihm. Dann singt er in dieser überraschend zärtlich klingenden Sprache: „Gedenksti yene nakht di shayne. Geblit, geflamt hosti mayn klayne ...“ Denkst du noch an jene schöne Nacht, geblüht hast du, geflammt, meine Kleine.

Starallüren? Keine Spur. Karsten Troyke, 57, liebt seine Lieder. Seit mehr als 30 Jahren interpretiert er vor allem Chansons in jiddischer und hebräischer Sprache, aber auch selbst getextete Lieder und Songs des Wiener Kabarettisten Georg Kreisler. Mit seinem Repertoire spielte er für jüdische Gemeinden, in Theatern, Clubs, in Berlin in der „Wabe“ in Prenzlauer Berg, in der Philharmonie – oder im Ballhaus Berlin.

Ein paar Tage später sitzt Karsten Troyke an der Bar seiner kleinen Wohnküche, draußen tröpfelt der Novemberhimmel, auf dem Fensterbrett steht ein silberner Chanukka-Leuchter, das achttägige jüdische Lichterfest beginnt am 13. Dezember, jeden Abend wird nun eine neue Kerze angezündet. Im Regal brummt die Espressomaschine. Darüber lacht Bettina Wegner auf einem Foto. Mit der heute 70-jährigen Liedermacherin verbindet ihn eine enge Freundschaft, 2018 sind wieder gemeinsame Konzerte geplant. Auch mit den Berliner Sängerinnen Suzanna und Sharon Brauner tritt er oft zusammen auf, wechselnd begleitet von Götz Lindenberg und Harry Ermer am Piano, Geiger Daniel Weltlinger und Trio Scho.

An der Wand hängt eine ganze Familien- und Freundesgalerie. „Fast allet Berliner“, sagt Troyke. Er ist in Prenzlauer Berg geboren, in Köpenick aufgewachsen, er berlinert ganz selbstverständlich und wohnt seit 2001 in Mitte. Die Diele ist tapeziert mit Auftrittsplakaten, auf der Garderobe wichtige Bühnenrequisiten: seine Schiebermütze und der schwarze Hut.

Wieso hat er eigentlich derart begeistert jiddisches Liedgut zu seiner Sache gemacht? „Das begann schon in meiner Jugend“, erzählt Troyke. Er stammt aus einer zutiefst antifaschistisch überzeugten Familie. Seine Urgroßeltern waren Opfer des NS-Regimes, über seine Großeltern und Eltern lernte er Überlebende aus KZs und Ghettos persönlich kennen, saß dabei, wenn sie von Verhaftungen, vom Widerstand berichteten. Sein Vater organisierte in der DDR Literatur- und Konzertabende mit Jazz-, Folk-, Roma- und jiddischen Musikern. „Das sind alles im Herzen miteinander verwandte, moderne, weltoffene Musikrichtungen“, sagt Troyke. „Teils geboren aus Demütigung und Heimatlosigkeit.“

So hörte er schon früh die hoffnungsvollen hebräischen Lieder jener verfolgten Juden, die einst nach Palästina flohen. Und er lernte die Lieder der jiddisch sprechenden osteuropäischen Juden kennen, ihre Chansons aus dem ländlichen „Schtetl“ oder den großen Städten. Sie wurden zum Tanz gespielt, als Hoffnungsschimmer gesungen – und beim Exodus ihrer Interpreten in alle Welt als kostbares Gut mitgenommen. Eines dieser Lieder stimmt Karsten jetzt leise an: „Vi ahin zol ikh gayn?“ Wohin soll ich gehn?

Er hat Jiddisch gelernt mit Hilfe von Überlebenden der Schoah. Gesprochen wird es heute fast nur noch von ultraorthodoxen Juden, aber deren enge Weltsicht, sagt Troyke, habe mit ihm „gar nichts zu tun“. „Vergessene Lieder“ heißt eine seiner CDs aus den 90ern. Sara Bialas-Tenneberg, eine Zeitzeugin jener Generation, die mit Jiddisch noch aufgewachsen ist, sang ihm damals viele Lieder vor und unterstützte ihn beim Sammeln. Die heute 90-Jährige entkam den Vernichtungslagern, sie lebt seither in Berlin. Wenn Sara eines seiner Konzerte besucht, singt sie sogar manchmal noch ein, zwei Lieder mit.

Als jiddischer Troubadour möchte Troyke „etwas ins Heute holen vom Alltag und den Gefühlen der Menschen, die einst diese Chansons geschaffen haben“. Denn: „Erinnern bedeutet lebendig sein.“ Viele Zuhörer glauben, er sei selbst gläubiger Jude. Nein, das ist er nicht. „Aber ich ehre und mag bestimmte jüdische Traditionen wie Chanukka“, sagt Troyke.

Leidenschaftlich gesungen hat er schon als Kind, aber auf die Bühne kam er über Umwege. Erst machte er eine Gärtnerlehre, dann bekam er Ärger beim Militär, weil er nicht auf Menschen schießen wollte – schließlich ging er dem SED-Staat möglichst aus dem Weg, arbeitete bis zur Wende in einem kirchlichen Heim für behinderte Kinder in Pankow und widmete sich intensiv seinen Passionen: Er lernte Schauspiel und Gesang.

Zurück ins Ballhaus Berlin. „Mag sein, ja mag sein, dass ich Luftschlösser baue ...“ Karsten macht vor dem Geiger leichte Wiegeschritte, geradeso wie bei einem „freylekh“ – fröhlichen – jiddischen Tanz. Er beflügelt sein Publikum, mal spürt es Traurigkeit, wenn er mit Witz und Tiefe alle Seiten des Lebens in die Musik packt – wie einst die jiddischen Kapellen. Mitreißend, melancholisch-anrührend, hintersinnig-grotesk. Typisch für den jüdischen Humor. Er verkörpert diesen Kontrast mit seinem jungenhaften Charisma und seinem Markenzeichen – dieser markanten, kräftig-dunklen Stimme, die wie geschaffen ist für ein solches Spiel mit ambivalenten Gefühlen.

„Leg dem kop af mayne kni“, singt er zum Abschied. „Leg den Kopf auf meine Knie, so ist es gut liegen. Kleine Kinder schlafen ein, Große muss man wiegen.“ Warum klingt Jiddisch eigentlich so zärtlich? „Vielleicht“, sagt er, „weil es nie eine Amtssprache war. Es wurde nur in der Familie gesprochen.“

Am kommenden Samstag, 20 Uhr, wieder im Ballhaus Berlin, Chausseestraße 102, mit Trio Scho & Klarinettist Jan Hermerschmidt, Tel.: (030) 282 75 75, www.ballhaus-berlin.de, www.karsten-troyke.de

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