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Der Holocaust-Überlebende George Shefi wurde mit dem Verdienstorden des Landes Brandenburg geehrt.

© Ottmar Winter

Verdienstorden für Holocaust-Überlebenden: Hundert Mal besser als ein Buch

George Shefi erzählt seit sechs Jahren, wie er den Holocaust überlebte. Jetzt wurde er mit dem Verdienstorden des Landes Brandenburg geehrt. Auf Schloss Gollwitz machten sich Großeltern, Enkel und Pädagogen Gedanken über die Zeit nach den Zeitzeugen

Gollwitz - George Shefi muss in Gollwitz der Vergangenheit ins Auge sehen. Vor sechs Jahren war er schon einmal hier und sagte, der Holocaust könne so nicht wieder geschehen. Ob er das immer noch meine, fragt Diskussionsleiterin Vanessa Braun den 87-Jährigen. „Doch, es kann wieder passieren“, sagt Shefi und erzählt eine Geschichte von einem schwedischen Chefbuchhalter, der ihn fragte, wann er denn seine Nase operiert hätte. Er sei doch Jude. „Man braucht keine Juden, um Antisemitismus zu haben“, sagt er. „Das Problem ist: Viele Menschen haben noch nie einen Juden getroffen.“

"Man braucht keine Juden, um Antisemitismus zu haben"

Vor sechs Jahren war Shefi zum ersten Mal in der Begegnungsstätte Schloss Gollwitz und konfrontierte sich und seinen Enkel Gil Hasson mit einem viel dunkleren Teil seiner persönlichen Geschichte. Bei einem Treffen von vier jüdischen und nicht-jüdischen Tandems setzten sich jeweils ein Großelternteil und ein Enkelkind mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust auseinander. Seitdem ist George Shefi oft in Deutschland unterwegs, spricht an Schulen und auf Konferenzen. Dafür zeichnete ihn Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) am Montag mit dem Verdienstorden des Landes Brandenburg aus. Woidke sagte: „Es ist eine beispiellose versöhnliche Geste, dass diejenigen, die so viel Brutalität, Hass und Barbarei ertragen mussten, den Mut und die Kraft gefunden haben, uns davon zu berichten.“

George Shefi (2.v.l.) im Gespräch in der Begegnungsstätte Schloss Gollwitz.
George Shefi (2.v.l.) im Gespräch in der Begegnungsstätte Schloss Gollwitz.

© Nantke Garrelts

Diese Kraft hatte George Shefi nicht immer. Zwar schrieb er 2004 sein Buch „The Way of Fate“ (Der Weg des Schicksals) über die Geschichte seiner Familie, von der er im Zuge einer Kinderlandverschickung getrennt wurde. In Deutschland, wo er 1931 in Berlin geboren wurde, auf Deutsche seiner Generation zu treffen, machte ihn trotzdem nervös. „Wenn ich auf Deutsche, die zehn Jahre älter waren als ich traf, dachte ich: Welche Rolle haben sie gespielt?“ Die Nazis vergasten seine Mutter in Auschwitz, George Shefi sah sie im Alter von sieben Jahren zum letzten Mal. Über England gelangte Shefi in die USA und nach Israel, wo er bis heute lebt.

Auf Deutsche in Deutschland zu treffen, mache ihn nervös

Gegenüber am Tisch sitzt Marianne Dittrich und erinnert sich ebenfalls an die Begegnung vor sechs Jahren. „Wir haben uns schon beäugt“, erinnert sie sich. „Aber wir haben uns von Anfang an gut verstanden.“ Sie war Teil eines der deutschen Großeltern-Enkel-Tandems. Ihr Enkel Malte sagt bei der Gesprächsrunde am Vormittag: „Ich werde Geschichtslehrer, also werde ich meinen Kindern ganz sicher vom Holocaust erzählen – ob sie wollen oder nicht.“ Er weiß: Wenn er Kinder hat, wird es Zeitzeugen wie seine Großmutter oder George Shefi vielleicht nicht mehr geben.

Auch deshalb hat Shefi sein Buch geschrieben, reist umher – und lässt sich filmen. Während der Gesprächsrunde stehen Kameras um den Sitzkreis herum und halten das Gesprochene fest. Am Mittwoch wird Shefi an der Oberschule Nord in Brandenburg/Havel seine Geschichte erzählen. Darauf angesprochen, dass er zu der aussterbenden Generation der Erstzeugen gehört, sagt er: „Wenn ich irgendwo sprechen soll – ich bin da.“

Mit Kinder sprechen Zeitzeugen oft nicht, mit Enkeln schon

„Wir erleben oft, dass das Bewahren der Erinnerung zu einer Mission wird, wenn sie erst einmal darüber reden“, sagt Susanne Krause-Hinrichs, Vorsitzende der Flick-Stiftung, die das Treffen organisiert. Die Gespräche zwischen Großeltern und Enkeln sind dabei besonders wichtig: Oft scheuen sich Zeitzeugen, mit ihren Kindern über das Erlebte zu reden. Bei den Enkeln falle das oft leichter, sagt Krause-Hinrichs. Deswegen liegt der Fokus bei der Neuauflage des Tandem-Treffens auf den Enkeln. „In der Erinnerungsarbeit drängt sich die Frage auf: Wie macht man weiter?“, sagt Krause-Hinrichs. Nun sollen die Enkel zu Multiplikatoren werden.

Darüber macht sich Vanessa Braun Gedanken. Die Lehramtsstudentin hat ein Konzept für den Geschichtsunterricht geschrieben und will das in Gollwitz entstandene Filmmaterial zu Clips und einem Gesamtfilm für den Geschichtsunterricht verarbeiten. Arbeitsblätter sollen das Material ergänzen, außerdem veranstaltet die Flick-Stiftung im Oktober eine Lehrerfortbildung. „Ich finde es problematisch zu sagen, dass Geschichte objektiv erzählt werden muss“, sagt Vanessa Braun. „Wenn etwas emotional ist, setzt es sich besser in den Köpfen fest.“

"Ihr seid nicht schuld, aber verantwortlich dafür, dass es nicht wieder passiert"

Die Geschichte von George Shefi ist dafür ein gutes Beispiel. Er erzählt von einem Gymnasiasten, der ihm nach einem Vortrag einen Brief schrieb. Eigentlich hätte der keine Lust auf noch einen Vortrag über den Holocaust gehabt, meinte sogar, man solle nicht mehr über Schuld sprechen. „Ich sage ganz direkt: Ihr seid nicht schuld, aber ihr seid verantwortlich dafür, dass es nicht wieder passiert“, sagt Shefi. Er spricht auch über seine unglaubliche Lebensgeschichte, über Glück und Zufall, die ihn 1966 seinen Vater und eine Halbschwester in Australien wiederfinden ließen. „Mit Leuten zu sprechen, die so etwas erlebt haben, ist hundert Mal besser als jedes Buch.“

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