zum Hauptinhalt
Opfer und Ankläger. Norda Krauel hatte Erfolg in Karlsruhe.

© Patrick Pleul/dpa

Urteil über DDR-Heimkinder: Gegen das Rechtsstaatsprinzip

Das Bundesverfassungsgericht fällt ein verheerendes Urteil über Brandenburgs Justiz und den Umgang mit DDR-Heimkindern. Formell geht es um einen Einzelfall – und doch um eine jahrelange Praxis.

Potsdam - Für Brandenburgs Justiz ist es ein verheerendes Urteil. Es geht um Norda Krauel, 51 Jahre, aus Fürstenwalde. Sie war als Jugendliche mehrere Monate im Durchgangsheim Bad Freienwalde und dann mehr als ein Jahr im Jugendwerkhof in Burg untergebracht. Bislang lehnten es Brandenburger Gerichte ab, sie und andere frühere DDR-Heimkinder strafrechtlich zu rehabilitieren. Und sie lehnten es ab, das Leid anzuerkennen – die Zustände in den DDR-Kinderheimen, die systematischen Menschenrechtsverletzungen. Nun hat das Bundesverfassungsgericht genau das in einem Kammerbeschluss gerügt.

Konkret geht es um die Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG). Es hat die Beschwerde von Norda Krauel gegen eine Entscheidung des Landgerichts Frankfurt (Oder), das eine Rehabilitierung wegen der Heimunterbringung in der DDR abgelehnt hatte, als unbegründet zurückgewiesen. Zur Unrecht, wie die Verfassungsrichter in Karlsruhe nun feststellten. Laut dem Beschluss hat das OLG „seine Aufgabe zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verfehlt, indem es der ihm obliegenden Amtsermittlungspflicht nicht nachgekommen ist“. Die Richter seien den von Norda Krauel vorgetragenen Hinweisen auf eine „mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechsstaatlichen Ordnung unvereinbare Anordnung“ zur Unterbringung in dem Durchgangsheim „nicht nachgegangen“. Damit habe das Oberlandesgericht Brandenburg Krauel „die von Rechtsstaats wegen geforderte Überprüfung erheblicher Tatsachen verweigert“. Das Gericht mit Sitz in Brandenburg/Havel habe alle Versuche, den Sachverhalt aufzuklären, „von vornherein nicht in Betracht gezogen und ist damit seiner Aufgabe zur Amtsermittlung nicht hinreichend nachgekommen“.

Rückständige Maßnahmen in Heimen als normal Akzeptiertes gesehen

Und die Karlsruher Richter listen in ihrem sechseitigen Beschluss detailliert auf, was ihre Kollegen am OLG in Brandenburg hätten tun müssen, um die Angaben von Norda Krauel über ihre Heimunterbringung zu überprüfen. Doch all das wurde nicht nur vom OLG unterlassen, sondern schon in den Instanzen zuvor. Über Jahrzehnte haben Brandenburgs Gerichte, genauer die Kammern für Rehabilitierungsverfahren an den Landgerichten, Anträge von DDR-Heimkindern derart restriktiv behandelt.

Bei Norda Krauel und vielen anderen wollten die Gerichte keine politischen Gründe für die Heimunterbringung, aber auch keine sachfremden Gründe anerkennen, die für eine Rehabilitierung nötig sind. Sie hörten die Betroffenen in den Verfahren nicht einmal mündlich an. Stattdessen hielten sich die Richter oftmals an die Akten der DDR-Jugendbehörden und sprachen von durchaus harten, rückständigen, aber jugendfürsorgerischen Maßnahmen, die als das damals als normal Akzeptierte gesehen werden müssten.

Norda Krauel: "Es war Haft"

Nun stellte das Bundesverfassungsgericht fest: Wenn die Rehabilitierungsgerichte einfach den in der DDR von Justiz und Behörden getroffenen Feststellungen folgen, verweigern sie den Betroffenen die ihnen zustehende Überprüfung von Tatsachen. Und sie verfehlen das Gesetzesziel, die Entscheidungen aus DDR-Zeiten zu durchbrechen. Wörtlich heißt es in dem Beschluss aus Karlsruhe: „Ein solchermaßen ineffektives Rehabilitierungsverfahren steht im Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes.“

Norda Krauel selbst sagt über ihre Zeit im Übergangsheim Bad Freienwalde: „Es waren keine haftähnlichen Bedingungen, es war Haft.“ Ihre Geschichte ist erschütternd: Eine Berufsausbildung wird ihr wegen nicht linientreuen Verhaltens der Mutter versagt, sie fühlt sich auch von der Mutter abgelehnt, sie geht deshalb zu ihrem Onkel, macht traumatische Gewalt- und Missbrauchserfahrungen – und sie treibt sich herum, wie es die DDR-Behörden formulieren. Mit 16 Jahren landet sie im „Tor zur Hölle“, wie sie es nennt. Stundenlang muss sie an der Wand strammstehen, bevor sie in die Zelle gesperrt wird. Ein verblichener gelber Punkt auf dem Boden wird hier zum Zentrum des Gefangenseins: Drei Tage lang steht sie dort. Sie ist durstig und trinkt den Becher Tee schnell aus, dann erst isst sie die versalzene Schmalzstulle. Nun hat sie noch mehr Durst. „Jetzt hast du Zeit, zu überlegen, warum du hier gelandet bist“, wird ihr gesagt. Aber Norda kommt nicht drauf, es gibt auch keine Erklärung. Sie hat nur Durst.

Sie hofft auf Gerechtigkeit

Als sie in die Gruppe eingewiesen wird, beginnt der Kampf um die Rangordnung. Prügeleien sind so normal wie das Riegelknallen am frühen Morgen. Die Brille wurde ihr als mögliche Waffe weggenommen. Bei der Arbeit am Band und dem Montieren von Lampen bekommt sie deshalb Migräne. Ein Ausbruchsversuch eskaliert in verzweifelter Gewalt. Ihr einziger Halt in dieser Zeit ist ein vierjähriger Junge, der nicht spricht. Er ist so schmal, dass er durch die Gitter zwischen den Etagen passt. Irgendwann hebt er die Arme, will auf den Arm. Norda hat Angst, bei dem verbotenen Kontakt erwischt zu werden. Doch der Kleine kommt immer wieder zu ihr. Irgendwann sagt er auch etwas – einen einzigen Satz: „Du könntest eigentlich auch meine Mutti sein.“ Wenn sie heute davon erzählt, schnürt es ihr immer noch die Kehle zu. „Die kleinen Kinder dort, das war das Schlimmste. Die konnten doch gar nicht verstehen, was da passierte.“

Nun hofft Norda Krauel, dass ihr nun doch noch Gerechtigkeit wiederfährt. Sie finde es traurig, dass das Oberlandesgericht Fälle wie den ihren wie am Fließband abgefertigt habe. „Das ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nun selbst für Laien zu erkennen. Das OLG ist seiner Arbeit nicht nachgegangen, wir hätten uns das alles sparen können.“ Was sie besonders ärgert: Sie ist nie angehört worden.

So berichtet es auch Petra Morawe, die bei der Landesbeauftragten zur DDR-Aufarbeitung tätig ist und Opfer der DDR-Heime berät. Es treffe die früheren Heiminsassen schwer, weil sie sich nicht ernst genommen fühlen, sich nicht erklären können vor einem Richter. Es gehe nicht ums Geld, durch den DDR-Heimkinderfonds werden auch sie unterstützt. Die Feststellung, rehabilitiert zu werden, weil ihnen Unrecht angetan wurde, ist etwas anderes. Was Morawe vermisst, ist die Einsicht in das System der Heimerziehung in der DDR. Es ging darum, „die als abweichend bezeichneten Eigenschaften von Kindern und Jugendlichen in einem Prozess kollektiver Erziehung zu korrigieren“, sagt sie. „Sie sollten unter haftähnlichen Bedingungen und mit einem Strafsystem lernen, sich anzupassen und sich im Sinne des Systems unterzuordnen.“ Man könne auch sagen: Die Persönlichkeit sollte gebrochen werden. Und das alles zentral gesteuert, also politisch gewollt. Wer nicht dem Ideal des sozialistischen Bürgers entsprach, „sollte mit besonderem Drill, mit Isolationen hingebogen werden, damit er zumindest funktioniert und Hilfsarbeiter werden kann“.

Grundrechte in DDR und im wiedervereinigten Deutschland verletzt

Petra Morawe sagt, die Haltung an den Gerichten müssten sich ändern. Und es habe sich auch schon etwas getan. Inzwischen gebe es Anhörungen an den Gerichten. Ob sich die Rechtssprechung ändere, bleibe abzuwarten – aber der Umgang mit den Opfern ändere sich. Sie hätten durch das Urteil aus Karlsruhe das Gefühl, dass sie recht hatten mit ihrer Kritik – nämlich dass ihre Grundrechte verletzt wurden, nicht nur in der DDR, sondern auch im wiedervereinigten Deutschland.

Es ist übrigens nicht nur die Haltung an den Gerichten selbst, die problematisch ist. Mehrere Insassen des Durchgangsheims Bad Freienwalden demonstrierten im vergangenen Sommer vor dem Landtag und zogen vor das Justizministerium – aus Protest gegen den Umgang mit ihnen. Schon zu dieser Zeit hatte das Bundesverfassungsgericht eine Stellungnahme vom Ministerium zur Verfassungsklage von Norda Krauel angefordert. Die Opferberaterin Petra Morawe hatte dem Ministerium sogar ein Dossier über das DDR-Heimsystem zusammengestellt. In dem Beschluss aus Karlsruhe heißt es nur: Brandenburgs Justizministerium „hat von einer Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde abgesehen“. Petra Morawe ist empört: „Ich bin sprachlos.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false