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Blieb auch wegen zahlreicher Ermittlungspannen lange unentdeckt: Das rechtsextreme Terrortrio NSU.

© dpa

Unterlagen zu V-Mann "Piatto": Brandenburg gibt NSU-Akten doch frei

Erst erteilte Brandenburgs Innenministerium einen Sperrvermerk für Unterlagen zum V-Mann „Piatto“. Nun will es die Geheimhaltung wieder aufheben. Es ist nicht Brandenburgs erste Blockade zum Neonazi Carsten Sz. im NSU-Prozess. Warum?

Potsdam/München – Brandenburgs Innenministerium will nun doch Akten zu dem früheren V-Mann „Piatto“ für den NSU-Prozess am Oberlandesgericht München (OLG) freigeben. Entsprechende PNN-Recherchen bestätigte ein Ministeriumssprecher auf Anfrage. Zuvor hatte es in Brandenburgs rot-roter Regierungskoalition Gespräche über den im August vom Ministerium verhängten Sperrvermerk für die Akte gegeben. Demnach gab es nicht nur von der Linken internen Druck, sondern auch von außen durch die Opferanwälte im NSU-Prozess sowie durch Bundespolitiker, die den Fall „Piatto“ in einem möglichen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages weiter prüfen wollen.

Innenministerium will das "Anliegen wohlwollend prüfen"

Wie ein Sprecher des Innenministeriums in Potsdam den PNN sagte, habe das OLG zum Umgang mit dem Sperrvermerk zunächst telefonischen Kontakt gesucht, das Ministerium habe allerdings ein offizielles Schreiben dazu verlangt. „Wir werden das Anliegen wohlwollend prüfen“, sagte der Sprecher. Nach PNN-Informationen hatte sich die Koalition zuvor intern darauf geeinigt, dass Brandenburg seine Blockadehaltung aufgibt.

Ende Juli hatte der Münchner Strafsenat auf Drängen der Opferanwälte einen Akten-Ordner beschlagnahmt, den ein Brandenburger Verfassungsschützer zu seiner Zeugenvernehmung vor Gericht mitgebracht hatte. Der vermummte Beamte wurde vom Gericht zu dem Neonazi Carsten Sz. befragt, der für den Brandenburger Verfassungsschutz Ende der 1990er- Jahre unter dem Decknamen „Piatto“ arbeitete. Der Beamte sagte aber nur zögerlich aus. „Piatto“ soll davon gewusst haben, dass für den NSU Waffen beschafft werden sollten.

Streit um gesperrte Akten - Opferanwälte beantragten Razzia

Brandenburgs Innenstaatssekretär Matthias Kahl (SPD) verhängte dann im August eine Sperrerklärung gegen die Sichtung der Unterlagen, sein Minister war zu dieser Zeit im Urlaub. Die als Geheimsache eingestufte Akte dürfte damit nicht im Prozess als Beweismittel eingeführt werden. Die Verfassungsabteilung im Ministerium warnte, dass die Akten die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes offenbart, vor allem die Methoden zur Anwerbung von V-Leuten. Die Akten ließen Rückschlüsse „auf die Beobachtungsintensität nachrichtendienstlicher Arbeit" und Schwerpunkte der Behörden in der Neonazi-Szene zu. Zudem warnte Kahl vor Nachteilen für das „Wohl des Bundes und eines deutschen Landes“, die Informationsbeschaffung könnte deutlich erschwert werden.

Daraufhin forderten mehr als 30 Opferanwälte Mitte September in einem Antrag vom Strafsenat, sich für die Aufhebung der Sperrerklärung einzusetzen – und nötigenfalls eine Razzia im Innenministerium anzuordnen, um die Akten zu beschlagnahmen.

"Piatto" gab einen der wenigen Hinweise auf das untergetauchte Terrortrio

Carsten Sz. alias „Piatto“ hatte Brandenburgs Verfassungsschutz 1998 einen der wenigen Hinweise bundesweit über das untergetauchte Terror-Trio gegeben. Und er gab weiter, dass sich die Thüringer Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe Waffen für Banküberfälle besorgen wollten. Damit sollte die Flucht nach Südafrika finanziert werden. Führende Mitglieder des Neonazi-Netzwerks „Blood & Honour“ in Chemnitz wollten – so die Meldung des V-Mannes – Papiere und Waffen für die Untergetauchten besorgen. Die Hinweise waren aber versickert: Brandenburgs Verfassungsschutz mauerte bei ihrer Verwertung in Sachsen und Thüringen. Mit schrecklichen Folgen: Mundlos und Böhnhardt erschossen zehn Menschen und verübten mindestens zwei Sprengstoffanschläge sowie 15 Raubüberfälle. Zschäpe, Hauptangeklagte im NSU-Prozess, soll laut Bundesanwaltschaft bei allen Verbrechen die Mittäterin gewesen sein. Mit dem, was "Piatto" als V-Mann ablieferte, hätte das Neonazi-Terror-Trio schon früh gestoppt und deren Mordserie verhindert werden können.

Platziert war „Piatto“ bei einem Neonazi-Versand in Sachsen im direkten Umfeld des NSU-Terror-Trios, als dieses 1998 im Raum Chemnitz untertauchte – also vor der Mordserie. Nicht geklärt ist, welche Rolle er bei der Waffenbeschaffung für den NSU gespielt hat. Denn er rüstete sich selbst bis zur Abschaltung als V-Mann für den militanten Kampf. Zudem war er es, der von einem Neonazi aus der Chemnitzer Szene die SMS bekam: „Was ist mit dem Bums?“ Experten halten dies für eine Nachfrage nach der Waffenlieferung für den NSU und schließen nicht aus, dass „Piatto“ selbst in die Beschaffung verstrickt war.

Auch die Umstände seiner Anwerbung 1994 während seiner Haft wegen Mordversuchs an einem Nigerianer und seiner vorzeitigen Entlassung aus der Haft sind dubios. Der Verdacht besteht, dass der Verfassungsschutz die Justiz täuschte. Das Innenministerium hatte jedoch stets jede Verantwortung zurückgewiesen. Experten dagegen sprechen von bislang nicht aufgeklärten Verstrickungen und schließen neue Erschütterungen nicht aus – weil fraglich ist, ob tatsächlich alle Akten zu „Piatto“ dem Untersuchungsausschuss des Bundestages und dem Münchner Gericht zur Verfügung gestellt worden sind.

Schon vor einem Jahr gab es Gerangel um Carsten Sz. alias "Piatto"

Bereits im Herbst 2014 hatte es Querelen zwischen dem brandenburgischen Innenministerium und dem Strafsenat in München im Fall "Piatto" gegeben. Bevor Sz. vor Gericht vernommen werden konnte, lieferte sich das Ministerium Gerangel um die Modalitäten. Es wehrte sich zunächst mit einem Sperrvermerk gegen eine Zeugenaussage. Opferanwälte sprachen von einem Skandal, die Linke in Brandenburg warf dem SPD-geführten Innenministerium Blockade vor und forderte eine offensive Aufklärung der Verwicklungen des V-Manns im NSU-Umfeld. Das Innenministerium verlangte, dass „Piatto“ nicht vor Gericht, sondern nur per Videostream an einem geheimen Ort in Begleitung eines Anwalts vernommen, sein Erscheinen verfremdet, die Stimme verstellt – und die Öffentlichkeit aus dem Gerichtssaal ausgeschlossen wird.

Schließlich beantragten die Grünen im Landtag sogar eine  Sondersitzung der für den Verfassungsschutz zuständigen Parlamentarischen Kontrollkommission. Nicht nur wegen des Sperrvermerks, sondern auch wegen einer Anweisung der Abteilung für Verfassungsschutz im Innenministerium an die Mitarbeiter. Darin wird ihnen untersagt, sich bei Angehörigen der NSU-Opfer in einem offenen Brief zu entschuldigen. Schließlich musste der damalige Innenminister Ralf Holzschuher (SPD) nachgeben und wies dabei den Verdacht zurück, dass eine Aussage des Ex-V-Mannes verhindert werden sollte. Schließlich gab es von Carsten Sz. vor Gericht wenig Erhellendes zu hören. Beobachter und Experten erstaunt das Verhalten Brandenburgs im Fall "Piatto" umso mehr, weil Brandenburg bei den Konsequenzen aus den Morden des NSU als vorbildlich gilt – etwa bei der Überprüfung von Todesfällen durch rechtsextreme Gewalt und beim harten Durchgreifen mit neuen Standards bei der Polizei.

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