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Abfahrt in den Feierabend. Der RE1 ist eine der wichtigsten Bahnverbindungen für Pendler in der Hauptstadtregion.

© Sebastian Gabsch

Brandenburg: Tut was für die Pendler!

Die Brandenburger sind die Deutschland-Meister im Pendeln. Im Alltag heißt es: Überfüllte Züge. Das muss nicht so sein. Hans Leister, früher Regionalchef der Deutschen Bahn, fordert einen Kurswechsel der Brandenburger Politik. Ein Plädoyer

Er gilt als einer der renommiertesten Bahn-Kenner in Brandenburg und Berlin: Hans Leister war früher Regionalchef der Deutschen Bahn in der Hauptstadtregion und deren Konzernbeauftragter. Später wechselte er zum französischen Bahnunternehmen Connex, war Geschäftsführer von privaten Bahnunternehmen. In den letzten Jahren ist er als Berater tätig. Er meldet sich regelmäßig zu Wort, wenn es um den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) geht. Das hat er auch zum neuen Nahverkehrsplan für Brandenburg getan, den das Infrastrukturministerium vorgelegt hat. In einer Anhörung im Landtag ist Leister als Experte gehört worden. PNN dokumentieren an dieser Stelle – in Auszügen – seine Stellungnahme. Ein Plädoyer für die Pendler.

„Brandenburg lebt von Pendlern“

Nach dem statistischen Bericht zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Land Brandenburg (Mai 2017) hatten Mitte 2016 insgesamt 953 000 Beschäftigte ihren Wohnsitz im Land Brandenburg. Davon hatte nur gut die Hälfte ihren Arbeitsplatz in dem Landkreis bzw. der kreisfreien Stadt, in der sie wohnen. Fast ein Drittel der Brandenburger Beschäftigten, über 278 000, arbeitet in einem anderen Bundesland. Weitere 172 000 arbeiten in einem anderen Landkreis bzw. kreisfreien Stadt, sind also „Binnen-Pendler“. Die Zahl der Beschäftigten insgesamt, vor allem aber der Anteil der Pendler, nimmt weiter zu. Potential für weiteres Wachstum ist vorhanden: In Berlin beträgt der Anteil der Einpendler an den Arbeitsplätzen nur 22 Prozent, in allen deutschen Großstädten ist dieser Anteil höher, zum Teil weitaus höher. Berlin wird sich bei der Entwicklung weiter anderen deutschen Großstädten annähern, damit wird auch die Zahl der Pendler zwischen Berlin und Brandenburg weiter zunehmen. Das Pendeln wird auch deshalb weiter zunehmen, weil in Berlin Wohnungen und Grundstücke knapp und teuer sind – und noch knapper und teurer werden – während Brandenburg Raum bieten kann. Das Land Brandenburg ist Pendler-Deutschlandmeister, vielleicht sogar Europameister.

Wachstum und Wohlstand in Brandenburg beruhen zu einem ganz wesentlichen Teil darauf, dass die Einwohner ihr Auskommen in anderen Bundesländern verdienen. ...

Wenn man unterstellt, dass die Löhne und Gehälter der Pendler tendenziell höher sind als die der im Land Beschäftigten (sonst würden sie nicht die Mühe des Pendelns auf sich nehmen), so dürfte sogar etwa die Hälfte des Lohn- und Einkommensteueraufkommens im Land Brandenburg von Pendlern in andere Bundesländer erarbeitet werden: Das Land Brandenburg lebt von seinen Pendlern.

Einige Zahlenvergleiche: Die Zahl der Brandenburger, die in anderen Bundesländern arbeiten, ist 13 Mal so hoch wie die Zahl der Menschen in Brandenburg, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind. Oder: Die Zahl der Pendler in andere Bundesländer ist 70 Mal so hoch wie die Zahl der im Bergbau beschäftigten Brandenburger. Beschäftigt sich die Landespolitik 13 Mal so viel mit dem Pendeln, als mit der Landwirtschaft? Kümmert sie sich 70 Mal so viel um Verkehrspolitik für Pendler wie um die Zukunft der Braunkohle? Beschäftigt sich der Finanzminister die Hälfte der Zeit, die er für Steuerpolitik verwendet, auf Brandenburger Pendler?

Brandenburg hat auch den höchsten Anteil an Einpendlern aus anderen Bundesländern, 140 000 Einpendler aus anderen Bundesländern finden im Land Beschäftigung, oder anders ausgedrückt: Ohne die Einpendler hätten die erfolgreichen Wirtschaftsansiedlungen große Probleme, Personal zu finden. Straßen und Schienen am Stadtrand Berlins sind in beiden Richtungen ausgelastet. Pendeln ist kein soziales Randphänomen, sondern die Existenzgrundlage des Landes.

Geschichte und Finanzen

In den 1990er-Jahren wurde das Regionalverkehrsnetz entwickelt, das bis heute die Grundlage bildet. Ein Rückblick: Im Fahrplan ab Mai 1998 fuhren drei Regional-Züge pro Stunde von Berlin über Potsdam nach Brandenburg (Havel), den ganzen Tag über. Aus Belzig fuhren drei Züge je Zweistunden-Abschnitt in Richtung Berlin. Potsdam hatte 1999 schon eine direkte Linie über Wustermark nach Berlin-Spandau, und zwischen Lübbenau und Cottbus fuhr neben der RE2- auch zusätzlich eine RB-Linie zur Bedienung der kleinen Bahnhöfe. Möglich wurden die Angebotsverbesserungen in den 1990er-Jahren durch die Regionalisierungsmittel, die im Zuge der Bahnreform vom Bund an die Länder ausgereicht wurden. 1998 wurden diese Mittel vom Land Brandenburg vollständig für den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) verwendet. Die Bürger haben seither das Angebot angenommen. Über 20 Jahre ist nun schon stetiges Wachstum bei den Fahrgastzahlen zu verzeichnen, ein Ende der positiven Entwicklung nicht abzusehen. Allerdings sind zwischendurch die politischen Schwerpunkte des Landes Brandenburg verschoben worden, die tatsächliche Bedeutung des SPNV ist aus dem Blick geraten. Die Regionalisierungsmittel wurden seit 2000 nicht mehr vollständig für den SPNV und Investitionen in den Schienenverkehr verwendet. Vielmehr wurden Jahr für Jahr erhebliche Anteile abgezweigt und damit die Streichung der gesamten Landesmittel für Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und Schülerbeförderung kompensiert.

Brandenburg erhielt 2016 eine Summe von 481 Millionen Euro Regionalisierungsmittel vom Bund, davon wurden nur 324,5 Millionen für die Bestellung von Verkehrsleistungen im SPNV ausgegeben, und nur 3,7 Millionen für Investitionen in den SPNV. Die Fehlverwendungsquote, beträgt damit für 2016 über 30 Prozent, das ist der höchste Wert in Deutschland. Ausgerechnet das Land Brandenburg mit den relativ meisten Pendlern verwendet aktuell den geringsten Anteil von den Bundes-Zuwendungen für den Schienenpersonennahverkehr.

Seit 2000 hat sich die Fehlverwendung von Bundesmitteln in Brandenburg auf weit über eine Milliarde Euro summiert. Was hätte man mit einer Summe von über einer Milliarde Euro alles bewegen können? Die Brandenburger Anteile der Potsdamer Stammbahn und der Heidekrautbahn-Stammstrecke, die SBahn nach Velten, den Umbau des Bahnhofs Königs Wusterhausen und anderer längst bekannter Engpässe im Brandenburger Bahnnetz hätte man bequem finanzieren können, und immer noch etwas übrig gehabt, um das das Zugangebot weit über das heutige Niveau hinaus zu verbessern.

Das Land Brandenburg hat sich mit dieser Politik massiv selbst geschadet. Entwicklung im Land wurde behindert, Wegzug gefördert und Ansiedlung verhindert. Brandenburg lebt von den Pendlern, und wenn die Verkehrsverbindungen verbessert werden, lebt das Land besser, auch in den Regionen, in denen noch Strukturprobleme bestehen. Die Wohnungswirtschaft in Brandenburg sieht einen sehr direkten Zusammenhang zwischen der Nachfrage nach Wohnungen und der Qualität der Verbindungen nach Berlin, oder, anders ausgedrückt, zwischen Wohnungs-Leerstand und schlechter Verkehrsverbindung nach Berlin. Ein Vertreter der Wohnungsunternehmen hat es kürzlich so ausgedrückt: „Kommt der Zug, kommt der Zuzug.“

Die heutige Realität: Stehplätze

Die Vernachlässigung hat Folgen: Überfüllte Züge. Pendleralltag heißt nicht nur früh aufstehen, er heißt für die Pendler aus den Vororten Berlins häufig auch, nur einen Stehplatz im Zug vorzufinden, weil der Zug schon aus weiter entfernten Regionen vollbesetzt kommt. Am Nachmittag kehrt es sich um: Viele Potsdamer und Vorortbewohner belegen dann die Sitzplätze ab den Berliner Bahnhöfen; diejenigen, die eine längere Strecke pendeln, müssen die ersten 20 oder 30 Minuten stehen. Für eine Cottbuserin oder einen Cottbuser, der jeden Tag nach Berlin fährt, summiert sich der tägliche Stehplatz zwischen Berlin und Königs Wusterhausen am Nachmittag übers Jahr auf 100 Stunden oder vier ganze Tage, die im Stehen verbracht werden müssen. Jeder Frankfurter, der heute nach Berlin pendelt, nutzt einen Zug, der mindestens zweimal öfter hält, als eigentlich nötig. Das bedeutet eine längere Fahrzeit von 6 Minuten pro Fahrt, entspricht 40 Stunden pro Jahr. Die Einsparung von 6 Minuten Fahrzeit pro Richtung hat für einen Pendler also die gleiche Wirkung wie eine Woche mehr Urlaub! Der SPNV im Land Brandenburg ist von strukturellen Defiziten geprägt. Einige dieser Defizite seien hier benannt:

· Vermischung von Express-Verkehr und Vorortverkehr

Wenn auf Hauptachsen zur Einsparung von Zugleistungen der Regional-Express-Verkehr aus den Tiefen des Landes nicht vom Berliner Vorortverkehr getrennt in eigenen Linien stattfindet, sondern die Expresszüge teilweise überall halten, ist das für alle Pendler nachteilig.

· Zu wenig Züge, zu wenig Platz darin

Gerade die, die Brandenburg wirtschaftlich am Laufen halten, werden mit täglichem Stehplatz bestraft.

Kein langfristiger Entwicklungsplan

Das schlimmste Defizit ist die Perspektivlosigkeit, was die langfristige Entwicklung angeht. Seit Jahren zeichnen sich Engpässe ab. Erst jetzt, 2017, wurden Korridor-Untersuchungen durchgeführt. Die Zusammenführung der Korridor-Untersuchungen zu einem Gesamtkonzept wird weiteren Zeitbedarf erfordern. Warum wurde in den letzten 15 Jahren verabsäumt, ein langfristiges Konzept aufzustellen? Es fehlt damit ein langfristiger Entwicklungsplan für den Zeitraum 2030 bis 2040, der eine Grundlage für heutige Entscheidungen darstellen kann.

Anfang der 1990er Jahre wurde zuletzt ein solches Konzept erstellt und war als „Zielnetz 2000“ die Richtschnur für die Verhandlungen mit Berlin und DB und die Grundlage für die Bestellung von konkreten Verkehrsleistungen. Weitgehend umgesetzt war das Zielnetz 2000 allerdings erst 2006. In der Zwischenzeit war es durch Sparmaßnahmen und anderweitige Verwendung der Regionalisierungsmittel bereits verstümmelt worden. Auch heute wäre es notwendig, vor der Ausschreibung von Teilleistungen erst ein Konzept für das „große Ganze“ zu entwerfen, bevor Entscheidungen getroffen werden, die wieder Folgen für lange Jahre haben werden.

Allgemeine Forderungen

Aus den Defiziten lässt sich eine Reihe von Schlussfolgerungen ableiten:

· Alle Bundesmittel für den SPNV für den SPNV verwenden

· Trennung Express- und Vorortverkehr

· Kein „Entweder-oder“ von S-Bahn oder Regionalverkehr

Es bedarf offenkundig beider Systeme; ein Ausbau sowohl der S-Bahn als auch des Regionalverkehrs ist notwendig.

· Zukunftsorientierte Planung für die Eisenbahn-Infrastruktur

Schienen-Infrastruktur wird nicht für den nächsten Fahrplan, nicht für die Laufzeit des Landesnahverkehrsplans und nicht für eine Legislaturperiode gebaut, sondern für Jahrzehnte und Jahrhunderte. Die oft sehr großzügigen Planungen vor etwa 130 und 90 Jahren, als die wesentlichen Elemente der heutigen Schienen-Infrastruktur geschaffen wurden, zeigen, wie man weitblickend planen und bauen kann – davon profitieren wir noch heute. Ein krasser Gegensatz dazu ist, dass heute allen Ernstes erwogen wird, Eisenbahn-Hauptachsen wie die Berliner Nordbahn oder die Potsdamer Stammbahn eingleisig wiederaufzubauen. Für Brandenburg ist es notwendig, einen eigenen langfristigen Plan zu erstellen und – im zweiten Schritt - mit Berlin abzustimmen, der den Zeitraum 2030-2040 abdeckt.

RE1

Viele Pendler werden weiter nur einen Stehplatz vorfinden. Das Angebot für 2022 wird knapp dem heutigen Bedarf gerecht, nur: Bis 2022 ist bereits wird bereits wieder eine weitere Zunahme der SPNV-Nachfrage eingetreten sein. Auch das skizzierte Angebot für 2030 ist sicher zu wenig, um die dann zu erwartende Nachfrage zu bedienen. Besonders deutlich wird das unzureichende Angebot auf der wichtigsten Linie, der RE1: Im West-Teil der Linie, der Verbindung nach Brandenburg, bleibt die Planung für 2030 bei den angebotenen Zugzahlen pro Tag unter dem Stand von 1998!

Potsdamer Stammbahn

Erfreulicherweise hat sich nunmehr auch die Landesregierung den seit vielen Jahren beharrlich verfolgten Bemühungen für den Wiederaufbau der Potsdamer Stammbahn angeschlossen. Bei den Korridoruntersuchungen werden jedoch ausführlich und in aller Breite auch Lösungen untersucht, die darauf hinauslaufen, nur eine S-Bahn-Strecke von Berlin-Zehlendorf nach Griebnitzsee zu bauen. Davon hätten die Brandenburger Pendler aus der Tiefe des Landes überhaupt nichts, und das kann nicht der Sinn eines Wiederaufbaus der Potsdamer Stammbahn sein.

Zusammenfassung

Der Regionalverkehr auf der Schiene ist eine Erfolgsgeschichte für Brandenburg. Die schnellen Verbindungen haben wirtschaftliche Entwicklung, Siedlung und Ansiedlung für viele Städte und Gemeinden ermöglicht. Fast ein Drittel der Brandenburger arbeitet heute in anderen Bundesländern, vor allem in Berlin. Ohne gute Verkehrsverbindungen, insbesondere auch auf der Schiene, wäre das nicht möglich geworden. Diese Erfolgsgeschichte bedarf der Fortschreibung. Den Pendlern als der mit Abstand größten „Berufsgruppe“ im Land Brandenburg sind es alle Akteure schuldig, jetzt unverzüglich die langfristigen Planungen ebenso anzugehen wie kurzfristige Verbesserungen, wenn die weitere wirtschaftliche Entwicklung des Landes nicht behindert werden soll.

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