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Behinderte, die einen Betreuer benötigen, dürfen nach jetzigem Recht nur bei der Kommunalwahl abstimmen.

© Julian Stratenschulte/dpa

Superwahljahr in Brandenburg: Menschen mit Behinderung dürfen nur teilweise wählen

Menschen mit geistiger Behinderung dürfen bei der Landtags- und Kommunalwahl abstimmen, aber nicht bei der Europawahl – da gilt Bundesrecht. Betroffene Brandenburger wenden sich nun an die Kanzlerin.

Potsdam - Nicht nur bei der Parität, der Gleichberechtigung von Mann und Frau bei der Besetzung von Parlamentsposten, nimmt Brandenburg eine Vorreiterrolle ein. Im Vorjahr hat der Landtag in Potsdam auch die Rechte von Menschen mit Behinderung gestärkt und das Brandenburgische Wahlrecht geändert. 

Bei der Landtagswahl am 1. September sowie bei der Kommunalwahl am 26. Mai können nun auch geistig Behinderte in Vollbetreuung abstimmen. Am 26. Mai ist aber auch Europawahl – von dieser ist dieselbe Personengruppe weiter ausgeschlossen.

Keine überzeugende Begründung

„Das ist absurd“, sagt der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion, Björn Lüttmann. „Da wird wieder neues Unverständnis in den Wahllokalen produziert“, sagt er. Denn eine überzeugende Begründung, warum Behinderte zwar die Kommunal- und Landesparlamente wählen dürfen, nicht aber das europäische Parlament, gibt es nicht. 

Außer dieser: Das Bundeswahlgesetz hinkt hinter dem Brandenburgischen hinterher und schließt Menschen, die für alle Lebensbereiche einen Betreuer zur Seite gestellt bekommen und zum Beispiel die Verantwortung für ihr Konto abgegeben haben, weiter vom Wahlrecht raus.

Offener Brief an Merkel

Der Verein Lebenshilfe Oberhavel Süd, der geistig Behinderte in Wohnstätten betreut und wie berichtet für die Wahlrechtsänderung in Brandenburg gekämpft hat, wendet sich nun in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). „Wir sehen das Wahlrecht für Menschen mit Behinderung durch derzeit noch bestehende Einschränkungen im Bundeswahlgesetz in der Bundesrepublik Deutschland als noch nicht verwirklicht“, heißt es in dem Schreiben. 

Die Bundesregierung müsse eine entsprechende Gesetzesinitiative ergreifen und sich dafür einsetzen, dass das Wahlrecht auf Bundesebene den Vorgaben der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen angepasst wird. Diese garantiert Menschen mit Behinderung die Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben. Das Recht, zu wählen, ist dabei ausdrücklich mit aufgeführt.

Jetzt sollte es schnell gehen

„Eine Änderung auf Bundesebene ist dringend geboten“, sagt Björn Lüttmann, der Vorstandsmitglied des Lebenshilfe-Vereins ist. Jetzt müsse es schnell gehen, der Bund aktiv werden, damit am 26. Mai auch tatsächlich alle Wahlzettel ausgefüllt werden können und nicht nach Europa- und Kommunalwahl unterschieden werden muss – was auch bei den Helfern in den Wahllokalen für Konfusion sorgen dürfte.

Einen starken Fürsprecher, der die Situation in Brandenburg und den langen Kampf für die Rechte Behinderter nur zu gut kennt, haben die Betroffenen: den Behindertenbeauftragten der Bundesregierung Jürgen Dusel. Bevor er im Vorjahr nach Berlin wechselte, war Dusel zehn Jahre lang Landesbehindertenbeauftragter in Brandenburg. Auch er fordert eine Änderung des Wahlrechts noch vor der Europawahl. 

Jürgen Dusel, Jurist und neuer Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung.
Jürgen Dusel, Jurist und neuer Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung.

© Thilo Rückeis

Seine aktuelle Herzensangelegenheit sei das inklusive Wahlrecht, erklärte er in einem Tagesspiegel-Interview. Derzeit seien 85 000 Menschen mit Behinderungen pauschal vom Wahlrecht ausgeschlossen. Kritiker des inklusiven Wahlrechts warnen vor dem Missbrauch durch einen Betreuer und dass Menschen mit Behinderung die Folge ihrer Wahl nicht einschätzen könnten. Das seien zum Teil die gleichen falschen Argumente, die man bei der Einführung des Frauenwahlrechts gehört habe, so Dusel. „Sie folgen einem Menschenbild, das nicht der Realität entspricht. Wir sollten aufgrund unserer Geschichte in Deutschland besonders darauf achten, dass bestimmten Bevölkerungsgruppen nicht pauschal ein fundamentales demokratisches Grundrecht verwehrt wird“, fordert Dusel.

Betroffene wollen ihr Wahlrecht ausleben

Auch in Brandenburg hat es einige Zeit gedauert, bis das Wahlrecht geändert wurde. Seit 2013 wendeten sich Betroffene verstärkt an die Lebenshilfe, weil sie ihr Wahlrecht ausüben wollten, heißt es in dem Brief an die Kanzlerin. In der Folge gab es einen regen Briefwechsel mit dem Landeswahlleiter und dem Justizministerium, der Innenausschuss des Landtags befasste sich mit dem Problem. „Auch Widerstände und Beschimpfungen hielten uns nicht davon ab, unsere Forderungen aufrecht zu erhalten“, schreibt der Vereinsvorstand. Rund 2400 Menschen in Brandenburg durften bis dahin wegen ihrer Behinderung ihre Stimme nicht abgeben.

Fraktionsübergreifende Zustimmung

Ein entsprechender Gesetzentwurf, von SPD und Linke, das Wahlrecht in Brandenburg zu ändern, fand im Vorjahr über alle Fraktionen hinweg Zustimmung. Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen hatten ihr Wahlrecht bereits entsprechend der UN-Behindertenkonvention geöffnet. Brandenburg war das erste ostdeutsche Bundesland, das gar keine Behinderten mehr vom Urnengang ausschließt.

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