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Stasi-Netz in Brandenburg: Spähtrupp für saufende Genossen

Die Geschichte von der allmächtigen, flächendeckend überwachenden Staatsicherheit, von den zahlreichen inoffiziellen Spitzeln, ist nicht haltbar. Ein Beispiel aus dem Sommer 1989 im nordbrandenburgischen Gransee.

Gransee - Es war im Sommer 1989, als sich der Chef der Bezirksverwaltung Potsdam der Staatssicherheit, Helmut Schickart, an das „erprobte Partei- und Kampfkollektiv“ seiner Kreisdienststelle in Gransee wendete. Er skizzierte die geheimpolizeiliche Großwetterlage. Die Nato und der US-amerikanische Präsident George Bush persönlich zielten darauf ab, „die Völker der sozialistischen Staaten in das kapitalistische Wertesystem zurückzuzerren“. Ob seinen Zuhörern die Frage kam, ob die angeführten Mängel in der Ordnung und Disziplin im Futtermischwerk Fürstenberg und Schäden in den bäuerlichen Aufzuchtbetrieben wirklich Folge einer Nato-Strategie waren, ist nicht überliefert.

Offenbar ging in Gransee noch alles seinen sozialistischen Gang. Das Jahr und der Tagesablauf der 38 Mitarbeiter in der Stadtvilla waren durch klare Vorschriften und Abläufe geregelt. Ansprachen und Pläne gehörten dazu, wie die Treffen mit Informanten, die Überwachung von potentiell Verdächtigen, die Kontrolle vieler Personen und jede Menge Papierkram. Im Gegensatz zu den Anfangsjahren, wo die Geheimpolizei viel unterwegs war, um Leute zu befragen oder festzunehmen, war die Stasi, nach eigenem Selbstverständnis „Schwert und Schild“ der SED, gegen Ende der DDR eine höchst bürokratische Angelegenheit. Alles sollte schriftlich festgehalten und ausgewertet werden.

Die oft gehörte Behauptung, die Staatssicherheit habe flächendeckend überwacht, ist nicht ganz richtig

Allein die Inoffiziellen Mitarbeiter – kurz IM – lieferten im Jahr 1988 über 1000 relevante Informationen. Diese wurden in Papierform an eine vierköpfige Auswertergruppe gereicht, die sie in Karteien und Akten einfügte oder weiterleitete. Zu immerhin 22 500 Personen existierten Karteikarten, die auf andere Akteneinträge hinwiesen. Das waren rein rechnerisch Einträge zu jedem Zweiten im damaligen Kreis Gransee.

Die Stasi wusste also viel über die Menschen in dieser ländlichen Gegend im nördlichen Brandenburg, damals noch Bezirk Potsdam. Aber die Informanten waren keineswegs gleichmäßig über die Region verteilt. Im dörflichen Milieu wohnten nicht einmal die Hälfte der Informanten. Von den 52 Dörfern und Gemeinden, die in Karteien oder Statistiken ausgewiesen sind, waren 19 gänzlich ohne IM. In den übrigen Ortschaften war die Streuung sehr unterschiedlich.

Größere IM-Zahlen fanden sich dort, wo militärische Anlagen der NVA oder der sowjetischen Armee lagen, wie in Badingen oder Alt-Tymen. Die meisten der Inoffiziellen Mitarbeiter auf dem Dorfe wohnten ohnehin nur dort und waren von der Staatssicherheit vor allem wegen ihrer beruflichen Tätigkeit in Betrieben oder staatlichen Einrichtungen angeworben worden. Die oft gehörte Behauptung, die Staatssicherheit habe flächendeckend überwacht, ist also nicht ganz richtig. Bis auf einen Versuch in den 1950er-Jahren, als es im Zuge der Kollektivierung gegen die Bauern ging, hatte die Stasi nie versucht, die Wohngebiete der Bevölkerung mit einem flächendeckenden Informantennetz zu überziehen. Sie überließ die soziale Kontrolle dort der Nationalen Front und der Volkspolizei, vor allem den sogenannten Abschnittsbevollmächtigten, den ABV.

Besonders eng war der Draht zum Bereich Inneres und zur Volkspolizei

Das heißt nicht, dass die Stasi auf Informationen aus den Dörfern und dem Wohngebiet verzichtete. Wenn sie etwas über einzelne Personen wissen wollte, und das wollte sie oft, steuerte sie Personen an, die sie für auskunftsfähig hielt. Diese wurden nicht als Stasi, sondern unter der Tarnung einer anderen Funktion und unter einem Vorwand, einer Legende, befragt. Erhielt die Stasi Auskunft, wurden die Befragten als Auskunftspersonen, kurz AKP, in einer Kartei festgehalten, so dass man weiß, wer über Nachbarn Auskunft gab. In der Stadt Gransee waren knapp vier Fünftel der AKP SED-Parteimitglieder und 55 Prozent Funktionäre, Parteisekretäre, in Leitungsfunktionen oder bei der Volkspolizei. In den Dörfern waren es vor allem Bürgermeister, Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei, freiwillige Polizeihelfer, Lehrer, LPG-Vorsitzende oder LPG-Bereichsleiter. Fast in jedem zweiten Ort wurden die Ortsbürgermeister als Auskunftspersonen genutzt. Die Namen scheinen die Stasi-Offiziere Ortporträts der SED-Regionalzeitung, der Märkischen Volksstimme, entnommen zu haben, die sie für die Kartei ausgeschnitten hatten.

Die AKP-Quote, bezogen auf die Gesamtbevölkerung im Kreis Gransee, war mit 3,4 Prozent deutlich höher als die IM-Quote von nur 0,4 Prozent. Auch wenn die Informationsgewinnung über AKP einen vollkommen anderen Charakter hatte, relativiert sie die landläufige Behauptung, die inoffiziellen Mitarbeiter seien die „Hauptwaffe“ des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gewesen.

Nicht nur die Kreisdienststelle Gransee stützte sich auf vielfältige Informationsquellen. Neben den Informationen aus der Postkontrolle, den IM und AKP waren es vor allem offizielle Quellen, Vertrauenspersonen, oft in Führungsfunktionen und mit dem Parteibuch der SED. Auch hier werden die Bürgermeister genannt. Im Bereich Justiz stützte sich der Leiter der Stasi-Kreisdienststelle, Hans-Jürgen Töpfer, auf Erkenntnisse, die ihm der Kreisstaatsanwalt und der Direktor des Kreisgerichts erzählt hatten. Auch im örtlichen Staatsapparat wurde die Hälfte der Informationen aus dem offiziellen Zusammenwirken gewonnen. Besonders eng war der Draht zum Bereich Inneres und zur Volkspolizei, von der die Stasi laufend Informationen über Meldedaten, Straftaten, Verdächtige oder Reiseantragsteller erhielt. In das Informationsnetzwerk und damit wissentlich oder unwissentlich Helfer des MfS waren also deutlich mehr Personen eingebunden als die IM, auf die so oft – gerade auch nach dem Wendeherbst 1989 – mit dem Finger gezeigt wurde.

1989 wurde eine Kandidatenliste bei den Kommunalwahlen nicht bestätigt - ein DDR-weit einmaliger Skandal

Eine weitere überraschende Erkenntnis ist, wie wenig sich die 16 IM-führenden Stasi-Mitarbeiter in Gransee gegen Ende der DDR mit Staatsfeinden im engeren Sinne beschäftigten. Ein Großteil ihrer Arbeit bestand darin, Personen zu überprüfen. Das waren zum einen solche, die ins Ausland, insbesondere ins westliche, fahren oder gar übersiedeln wollten. „Jeder Oma, die nach drüben wollte“, habe man nachspüren sollen, beklagte sich ein MfS-Mitarbeiter im Nachhinein. Zum zweiten wurden viele Personen in sicherheitsrelevanten Funktionen überprüft, wie Reisekader, Geheimnisträger, also nicht selten solche, die als eher staatsnah einzustufen waren.

Von den 120 IM im Kreis Gransee waren die meisten, nämlich ein gutes Viertel, in der Wirtschaft, Landwirtschaft und Forstwirtschaft eingesetzt. Ein weiteres Viertel war mit der Abwehr feindlicher Angriffe, meist bei militärischen Anlagen, in staatlichen Einrichtungen, vor allem bei der Volkspolizei, tätig. Selbst wenn man alle neuralgischen Bereiche zusammenrechnet, wo das MfS Staatskritiker wähnte, also die Kirche, die Jugendlichen, die Kultur, den Umweltschutz, den sogenannten politischen Untergrund, waren hier nur weniger als 10 Prozent der Stasi-IM angesiedelt.

Damit sollen nicht die Schikanen bis zur Festnahme gegen Bürger, die die DDR verlassen wollten, die Überwachung von unangepassten Jugendlichen oder sogenannte Zersetzungsmaßnahmen gegen kritische Kirchengruppen, verniedlicht werden. Aber in diesem Bereich war die Kreisdienststelle Gransee erstaunlich schwach aufgestellt. Zunächst entging ihr sogar, dass 1989 eine Kandidatenliste bei den Kommunalwahlen nicht bestätigt wurde, ein DDR-weit einmaliger Skandal.

Am meisten konzentrierte sich die Stasi im Kreis Gransee auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die Probleme im staatlichen Sektor

Der größte Teil der Energien der Stasi im Kreis Gransee wurde auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die Probleme im staatlichen Sektor verwendet. Aber wenn sie Notschlachtungen von 600 Kühen aufgrund einer Tierseuche oder Förderbandbrände durch Kohleabrieb meldete, steckte dahinter nicht der Klassenfeind. Und auch bei der Kreispolizei waren zumeist nur Korruption, Suff und unerlaubter Westkontakt zu kritisieren. Die Arbeit der Stasi wirkt hier wie eine Personalberatung für die Polizeiführung oder der SED, um Personalentscheidungen vorzubereiten. Auch Schlendrian, unmoralisches Verhalten und Trunkenheit von Spitzenkadern im Kreis waren regelmäßig Berichtsthemen an den ersten Kreissekretär der SED.

So wirkt die Kreisdienststelle Gransee kurz vor der großen Bewährungsprobe im Herbst 1989 eher wie ein Spähtrupp für Mängel im Herrschafts- und Apparategefüge als eine Avantgarde, die sich, wie vom Bezirkschef in seiner Ansprache skizziert, auf die letzte Schlacht mit dem Feind rüstete.

Der Autor ist Journalist und Historiker. Er war für den rbb in Brandenburg und als Gutachter der Enquentekommission des Landtags zur DDR-Aufarbeitung tätig.

Christan Booß

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