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Start mit Mozart-Arien und viel Elan: Radtour zum Gedenken an die Kindertransporte gestartet

Fünfzig Radler fuhren am Samstag vom Bahnhof Friedrichstraße nach London los. Sie wollen an die Rettungsaktion für jüdische Kinder vor 80 Jahren erinnern.

Kurz nach acht Uhr früh am Bahnhof Friedrichstraße: Rund 50 Radler, überwiegend Männer, in Sport-Shirts und Bikerhosen stehen auf dem Dorothea-Schlegel- Platz, machen Dehnübungen oder basteln an ihren Rädern herum. Bis London wollen sie fahren, im Gedenken an die Kindertransporte von Berlin nach England kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

Die meisten Radler sind Nachfahren der Kinder

„Für alle ist heute ein ziemlich emotionaler Tag“, sagt Tony Book, der die sechstägige Tour per Video dokumentiert. Einige der überwiegend britischen und amerikanischen Mitradler waren noch nie zuvor in Berlin und erleben hier nun eine ganz andere Art der Konfrontation mit ihrer Vergangenheit: Genau dort, wo gleich die Radtour losgeht, wurden vor 80 Jahren mehr als 15500 jüdische Babys, Kinder und Jugendliche von ihren Eltern in den Zug gesetzt und so vor dem Tod durch die Nationalsozialisten bewahrt. Die meisten Radler sind Nachfahren dieser Kinder.

In Pflegefamilien, Hostels oder Heimen überlebten die ein- bis 17-Jährigen den Holocaust, sahen ihre Familien jedoch meistens nicht wieder. Seit 2008 erinnert an der Südseite des Bahnhofs Friedrichstraße das Denkmal mit dem Titel „Züge in das Leben – Züge in den Tod“ an das Schicksal der unbegleiteten Verfolgten. Unter der Skulptur von Frank Meisler, die sechs Kinder mit Koffern darstellt, liegen weiße Rosen. Sie sind noch frisch.

Anthony Raus Eltern setzten sich in England für die Kinder ein

„Es ist ein Mix aus Stolz und Trauer“, sagt Anthony Rau, dessen Eltern damals gemeinsam mit dem Rabbiner Salomon Schönfeld in England ankommende Kinder unterstützten. Mit 81 Jahren ist Rau einer der ältesten und noch topfitten Teilnehmer des „Commemoration Bike Ride“. Als kleiner Junge habe er gar nicht verstanden, was es immer zu besprechen gab, wenn der Rabbi vorbeikam, erzählt er. Erst Jahre später fand er heraus, welchen ehrenvollen Dienst seine Eltern im Leben der geflüchteten Kinder geleistet hatten.

Plädoyers für die Freiheit und gegen Diskriminierung

„Ich empfinde eine Mischung aus Dankbarkeit und Verantwortung bei dem Thema“, sagt Karina Häuslmeier vom Auswärtigen Amt. „Verantwortung, die wir auch heute noch tragen. Wir müssen für die Freiheit, sicher in Europa leben zu dürfen, kämpfen. Das sind wir den Toten und Überlebenden schuldig.“

Auch die Vizepräsidentin des Bundestages Petra Pau plädiert in ihrer Ansprache vor dem Start dafür, sich gegen Diskriminierung und für demokratische Gesellschaften einzusetzen. Den Radfahrern wünscht sie, dass sie auf ihrer Tour möglichst viele Gespräche führen: „Viele Menschen sollen erfahren, was passiert, wenn nicht rechtzeitig jemand ein Stoppschild gegen Diskriminierung und antidemokratische Bewegungen hochhält.“ Vor denen, die das heute noch tun, habe sie großen Respekt. Und vor der körperlichen Leistung, die über tausend Kilometer mit dem Rad zurückzulegen.

Dafür braucht man natürlich Vorbereitung: Paul Alexander, 81, hat als Einziger im Radlerteam den Kindertransport noch selbst erlebt. Er fährt mit Sohn und Enkel zusammen, die drei haben täglich trainiert. Nun werden sie von zahllosen Handys und Kameras umringt.

Mit Geklingel geht's los

Nachdem alle in allen Konstellationen abgelichtet worden sind, wird die israelische Nationalhymne angestimmt. Wer die Melodie kann, summt mit – auch der britische Botschafter. Bei den melancholischen Harmonien werden einige Augen feucht. Aber dann herrscht wieder Aufbruchsstimmung, aus dem vorderen Teil des Fahrradpulks pfeift einer Mozart-Arien, die Fotografen machen sich bereit. Mit fröhlichem Geklingel fährt die Truppe los.

Milena Reinecke

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