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Skandal um Krebsmedikamente: „Um die Betroffenen kümmert sich niemand“

Die Folgen des Medikamentenskandals für Krebspatienten sind weiter unklar. Eine Kranke sagt, ihr habe noch niemand Auskunft geben können.

Potsdam - Für Betroffene ist es eine Tortur. „Ich bin erschüttert über die Ignoranz und Untätigkeit“, sagt eine Krebskranke aus Berlin den PNN am Telefon. Am vergangenen Donnerstag hat sie in der ARD-Sendung „Kontraste“ von dem Fall von offenbar gestohlenen, teils unwirksamen Krebsmedikamente für Chemotherapien gehört. Doch auch eine Woche später kann ihr niemand sagen, ob die Medikamente, die sie in der Vergangenheit genutzt hat, überhaupt wirksam waren. „Ich kämpfe jeden Monat um Lebensverlängerung“, sagt die Frau, die anonym bleiben möchte, mit tränenerstickter Stimme. Auch ein weiterer Leser dieser Zeitung meldete sich am Donnerstag besorgt via Mail. Öffentlich äußern will er sich jedoch nicht, zu groß die zusätzliche Belastung.

Auch eine Woche nach Bekanntwerden des Falls sind die gesundheitlichen Folgen für Patienten hierzulande vollkommen unklar. Seit 2013 sollen in griechischen Krankenhäusern die Medikamente gestohlen worden sein. Dann soll ein Brandenburger Händler die Präparate über eine Apotheke in Griechenland importiert haben. Bereits im Dezember 2016 hatte es erste Hinweise gegeben. Die Staatsanwaltschaft Potsdam ermittelt seit April 2017 wegen Hehlerei und Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz. Die Ermittler informierten auch das Landesgesundheitsamt. Doch das untersagte der Firma im Juni 2017 nur den Handel mit der Apotheke in Griechenland. Der Rückruf der Medikamente erfolgte erst in dieser Woche und auch die Aufklärung läuft nur langsam an. Und so gilt weiter, was Gesundheits-Staatssekretärin Almuth Hartwig-Tiedt bereits am Mittwoch mitteilte: „Wir können nicht genau sagen, ob die Medikamente gesundheitsgefährdend waren oder nicht.“

Von 700 betroffenen Arzneimittelpackungen gingen die Behörden zuerst aus - offenbar sind es deutlich mehr

Inzwischen wurde immerhin bekannt, welche Medikamente das Ministerium zurückgerufen hat. Die Liste, die zuerst das Branchenblatt „Apotheke Adhoc“ publik gemacht hat und auch den PNN vorliegt, listet zehn Krebsmedikamente auf. Anfangs waren die Behörden von rund 700 Arzneimittelpackungen ausgegangen, inzwischen wird befürchtet, dass es noch deutlich mehr sein könnten. Namentlich sind das: Adcetris, Afinitor, Alimta, Herceptin, Mabthera, Neulasta, Tracleer, Vectibix, Velcade und Xgeva. Alle Arzneien sind mit Lieferscheinen aus den Jahren 2016 oder 2017 ausgestellt und gelten als „unbestätigte gestohlene Produkte“. Auch eine Lieferantenliste der verdächtigten Medikamentenfirma Lunapharm liegt dieser Zeitung vor. Demnach wurden mehreren Großlieferanten sowie mindestens 15 Apotheken bundesweit beliefert – darunter auch eine onkologische Praxis im Nordosten Berlins. Diese war jedoch am Donnerstag nicht für eine Stellungnahme erreichbar.

Der Apotheker Franz Stadler äußerte sein Unverständnis für die Rückrufaktion des Ministeriums: „Was da jetzt zurückgerufen wird, müsste schon längst verabreicht worden sein“, sagte er den PNN. Stadler, der in die Recherchen der ARD eingebunden war, vermutet, dass die Aufsichtsbehörden damit Symbolpolitik betreiben wollen. Patienten könne man damit wohl nicht mehr schützen. „Das bringt wahrscheinlich einfach nichts mehr“, sagt Stadler, der eine Apotheke im bayerischen Erding betreibt.

AOK hat sofort Anzeige gegen die verdächtigte Medikamentenfirma Lunapharm

Für Stadler sind die Lehren aus dem aktuellen Skandal schon jetzt klar. Man müsse die Mechanismen der Aufsichtsbehörden verbessern und die Importquote der Apotheken abschaffen. Deutsche Apotheken sind gesetzlich dazu verpflichtet, einen gewissen Anteil an preisgünstigen, importierten Medikamenten zu verschreiben. Erfüllt eine Apotheke die Quote nicht, drohen Strafzahlungen. „Erst im vergangenen Monat habe ich wieder 1900 Euro zahlen müssen“, berichtet Stadler. Profiteure von dieser Regelung sind Händler und Kassen. „Es geht inzwischen nur noch um Profit statt Arzneisicherheit“, kritisiert er.

Auch die Krankenkassen haben sich eingeschaltet. „Die AOK Nordost hat sofort nach dem Bekanntwerden der Ermittlungen gegen das Unternehmen Lunapharm Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft gestellt und um eine zeitnahe Möglichkeit der Akteneinsicht gebeten“, sagte ein Sprecher. Vorrangiges Ziel sei es, so schnell wie möglich herauszufinden, ob ihre Versicherten mit gestohlenen Krebsmedikamenten versorgt wurden. Auch um zu prüfen, ob eventuelle gesundheitliche Einschränkungen zu befürchten sind.

„Dass sie giftig werden, wird wohl eher die Rarität sein“

Das kann nämlich nach wie vor niemand sagen. „Ratsuchende könnten wir im Moment nur vertrösten“, sagte Johannes Schenkel, ärztlicher Leiter der unabhängigen Patientenberatung. Auch er kritisiert eine „unbefriedigenden Informationslage“. Ob die zurückgerufenen Medikamente Schaden angerichtet haben, darüber kann er nur spekulieren. „Dass sie giftig werden, wird wohl eher die Rarität sein“, vermutet er. Gerade für Krebspatienten sei es jedoch fatal, wenn die Arzneien ihre Wirksamkeit verlieren würden.

Für Patienten bedeutet das vor allem eines: Unsicherheit. „Das ist doch kein verstauchter Finger“, sagt die betroffene Frau. Weil sie eine medizinische Grundausbildung hat, achtete sie bei ihrer Behandlung darauf, keine reimportierten Medikamente zu bekommen. Trotzdem kann ihr auch eine Woche nach Bekanntwerden des Skandals niemand sagen, ob ihre Arzneien nicht doch verunreinigt oder wirkungslos waren. Dabei hat sie sich bereits an ihren behandelnden Arzt und ihre Praxis gewandt. „Um uns Betroffene kümmert sich einfach niemand – wir sind zu schwach.“

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