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Rückblick: Vor 70 Jahren: Als Russen die Einwohner von Stolpe schockten

Am 3. Januar 1949 räumten die Franzosen das brandenburgische Dorf Stolpe im Nordwesten des Landes  – ein Schock für die Bevölkerung.

Von Markus Hesselmann

Stolpe - Es ist ein typisches Dorf in der Mark, gelegen zwischen Hennigsdorf und Hohen Neuendorf nördlich von Berlin. Bis zum Fall der Mauer lag Stolpe im Sperrgebiet. Der baumbestandene Fußweg, der sich heute geradezu idyllisch mitten aus dem Ort über die Felder bis nach Berlin-Frohnau zieht, war bis Ende 1989 nur für die Grenzstreifen benutzbar. Parallel zur Grenze verlief der befestigte Postenweg. Zwischen Stolpe und Frohnau liegt heute ein Golfplatz. Die einstige direkte Zufahrt in das Straßendorf und zum Mittelpunkt des Ortes, dem Kirchhof und der 1822 mit einem Turm verzierten Kirche sowie dem Traditionsgasthaus „Zur krummen Linde“, ist nur noch zum Teil erkennbar. Aber am Ort selbst scheinen die Zeitläufe vorbeigegangen zu sein.

Dass es einmal eine wohlhabende Ansiedlung war, kann man freilich nur noch ahnen. Die Familie von Pannwitz hatte das Gut 1759 erworben und zu einem modernen Betrieb gemacht, mit Ziegelei, einem Teerofen, großem Kartoffelanbau und weitläufigen Wäldern. 1937 erwarb die Stadt Berlin Stolpe und machte es zu einem ihren Stadtgüter – dem ertragreichsten, wie es später einmal hieß. Aber Stolpe durchlebte nach dem Zweiten Weltkrieg ein ganz ungewöhnliches Schicksal – das Dorf kam am 10. November 1945 unter französische Befehlsgewalt, obwohl es im russisch besetzten Teil Deutschlands lag. Der Grund: Die Franzosen wollten dort einen Flughafen bauen. Beide Besatzungsmächte hatten das in einem Protokoll vom 29. Oktober 1945 so vereinbart. Zu diesem Zeitpunkt gingen die vier Alliierten noch von einem abgestimmten und einheitlichen Vorgehen in Berlin aus.

Spätestens mit dem Beginn der Blockade West-Berlins am 24. Juni 1948 änderte sich alles. Die Franzosen entschlossen sich, den neuen Flughafen in Tegel zu errichten, und gaben ihre Pläne in Stolpe auf. Sie sprengten in Tegel zwei Sendemasten, die von den Sowjets auch für den Rundfunk genutzt wurden – sie hätten in der Einflugschneise des neuen Flughafens gestanden. Ende 1948 stand für die Franzosen wohl fest, dass sie Stolpe an die Russen übergeben würden. Die Deutschen erfuhren davon nichts. Der kommandierende französische General nannte das später eine „peinliche Angelegenheit“.

Schock kurz nach der Wahl

Nichts ahnend, konnten die Einwohner von Stolpe an der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin am 5. Dezember 1948 noch teilnehmen – und sprachen sich zu 93 Prozent für demokratische Parteien aus. Umso größer muss der Schock gewesen sein, als sie wenig später von der bevorstehenden Übergabe an die Russen erfuhren. Sie sollte am 3. Januar 1949, einem Montag, erfolgen. Dem Tagesspiegel war das in seiner Ausgabe vom 21. Dezember 1948, einem Dienstag, eine der beiden Aufmachungen auf Seite 1 wert. Die Überschrift lautete: „Votum für die Freiheit missachtet – Auslieferung des Dorfes Stolpe an die Russen“. Selbstverständlich – aus Sicht der Siegermächte – hatte niemand die Einwohner von Stolpe gefragt, ob sie mit diesem Besitzerwechsel einverstanden waren. Dem Bürgermeister des Ortes wurde durch die Franzosen mitgeteilt, dass sie das Gelände an die Russen übergeben würden. Der zögerte aber, hatte Angst, dies der Bevölkerung sofort mitzuteilen – so erfuhren die Betroffenen erst durch Radio und Zeitungen, was auf sie zukommen würde. Die Franzosen rückten an und transportierten die landwirtschaftlichen Geräte ab, die sie 1945 nach Stolpe gebracht hatten. Beim Versuch, die Viehherden auf französisches Gebiet zu bringen, verlief sich ein Teil der Herde auf russisches Gebiet und wurde von der russischen Armee beschlagnahmt. Die Franzosen holten die Trikolore ein und verlegten das Polizeirevier nach Reinickendorf, auch die Feuerwehr bereitete sich auf den Umzug vor.

Für die Freiheit gestimmt

Der Tagesspiegel berichtete, die Russen hätten bei der Übernahme Stolpes große Mengen an Nahrungsmitteln vorgefunden, die die Franzosen zurückgelassen hatten – immerhin hatte das Gut Stolpe die gesamten Grundnahrungsmittel für die französischen Besatzungstruppen in Berlin erzeugt: Zehntausend Zentner Kartoffeln und tausend Zentner Getreide fielen in russische Hände. Dies sei die Last von 60 Luftbrückenmaschinen, diagnostizierte der Berichterstatter des Tagesspiegels. Wie viele Einwohner Stolpes gleich in den Westen gingen, lässt sich aus der Berichterstattung nicht ablesen. Immerhin erinnert der Journalist an das freiheitliche Votum der Stolper bei den Wahlen am 5. Dezember und schließt seinen langen Text in der Ausgabe vom 21. Dezember 1948 mit diesen Zeilen: „Es ist deshalb schwer verständlich, wieso die Franzosen zulassen konnten, dass die Einwohner von Stolpe sich an der Wahl vom 5. Dezember beteiligten. Sie taten das zu einem besonders hohen Prozentsatz, der gewiss durch die fühlbare Nähe der russischen Besatzungsmacht zu erklären ist. Und nun sieht sich die gleiche Bevölkerung denjenigen ausgeliefert, gegen die sie sich soeben unzweideutig ausgesprochen hat. Das hätte man den Einwohnern von Stolpe ersparen können. Da es geschehen ist, sollte man dafür Sorge tragen, dass jeder, der sich gefährdet fühlt, Gelegenheit erhält, in den französischen Sektor von Berlin überzusiedeln. Die Freiheit dürfte diesen Gefährdeten wichtiger sein als der Verlust von Haus und Hof. Das Gefühl, von der Besatzungsmacht, der sie eben ihr Vertrauen kundgetan haben, im Stich gelassen worden zu sein, dürfte damit allerdings nicht ausgelöscht werden.“

Wäre der Flughafen bei Stolpe im Norden Berlins nach 1945 gebaut worden, hätten wir dort eine mit Schönefeld im Süden absolut vergleichbare Situation. Auch dort gäbe es einen großen Flughafen unmittelbar am Berliner Ring mit der – bei gleichen Windverhältnissen – identischen Ausrichtung der Start- und Landebahnen in Ost-West-Richtung. Hohen-Neuendorf und Birkenwerder wären wahrscheinlich längst dem Erdboden gleichgemacht worden. Und Tegel? Märkische Heide mit Kiefernbestand…

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