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Franziska Heinisch ist eine der Sprecherinnen der Generationen-Stiftung.

© Marco Pultke

Renitent faktenorientiert: Wir sind die neuen Radikalen

Sie werfen keine Steine, sondern setzen auf das radikalste aller Mittel: die Wahrheit. Hartnäckig statt gewalttätig, renitent faktenorientiert. „Was wir tun, ist die Emanzipation von einem System, das uns alle vernichten kann“, sagt eine. Klimapolitik ist nur der Anfang.

Die Wut war immer schon da. Und ist gewachsen. Sie erinnert sich daran, dass sie unbedingt mit fünf in die Schule gehen und schreiben wollte. Aber es hieß, sie sei emotional noch nicht reif. Später sagten Lehrer bei politischen Diskussionen, ihr versteht das nicht. Immer sollten die Jungen die Unvernünftigen sein. Dann ist sie volljährig, sitzt sonntags zu Besuch bei ihren Eltern am Frühstückstisch. Es geht schnell um die Klimakrise; die Mutter sagt, ihr seid zu radikal, der Vater findet, mit Anklagen komme man nicht weit. Dann eskaliert der Streit. 

Franziska Heinisch holt tief Luft, als sie das erzählt. Die Erinnerung an den Konflikt findet sie nicht lustig, eher typisch für die Situation ihrer Generation. Jetzt ist sie 20 Jahre alt, sie steht an einem Mittwoch im Juni um acht Uhr morgens vor dem U-Bahnhof Bundestag, zwischen Reichstagswiese und Paul-Löbe-Haus. Gleich wird sie mit anderen der „Generationen-Stiftung“ versuchen, Abgeordnete für ihren Kampf gegen die Klimakrise und für Generationengerechtigkeit zu gewinnen. Ihr Haar ist stoppelkurz, ihre Haltung entspannt, sie spricht ruhig  – aber was sie sagt, schreit nach Veränderung. Sie hat damals die Eltern angebrüllt, dass sie mit ihrer Bequemlichkeit auch die Zukunft der eigenen Tochter riskieren. Der Vater brüllte zurück: „Wir haben dir doch so viel ermöglicht.“ 

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Franziska Heinisch und ihre Mitstreiter wollen nichts Böses – sie wollen nur die Welt retten. Sie sagt: „Mich kotzt die Verlogenheit der Erwachsenen an.“
Klimaaktivisten kämpfen seit Langem dafür, dass die Politik radikale Entscheidungen trifft, um die Katastrophe abzuwenden. Jetzt zeigt die Coronapandemie, dass Politik radikal und konsequent sein kann. Gleichzeitig hat Corona wieder vergessen lassen, dass da noch größere Probleme warten. Verspielen wir gerade eine historische Chance auf grundlegenden Wandel?
Franziska Heinisch will nicht warten. Und so ist sie eine Getriebene aus Überzeugung, Verzweiflung und Mut geworden. Sie sagt: „Ich kann nicht anders.“ 

Radikal heißt für Heinisch „hartnäckig“

Sie gehört nun zu denen, die sich aufgemacht haben, um Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen. Radikal heißt für sie nicht gewalttätig, sondern „hartnäckig“. Sie ist Sprecherin der Generationen-Stiftung, eine Organisation aus Jungen und Alten, die kürzlich den Generationenrettungsschirm ins Leben gerufen hat. Die Ziele des Rettungsschirms lesen sich unspektakulär, gerade weil sie vernünftig klingen. Die Jungen wollen den Alten die Hand reichen, sie wollen eine Systemwende „durch die Verbindung der Generationen“, damit, wie Heinisch sagt, „kein sozialer, humanitärer und ökologischer Trümmerhaufen“ bleibt. Die größte Sorge: Dass die Corona-Rettungsmaßnahmen die eigentlichen Krisen verschärfen.  

Kürzlich demonstrierten sie, wegen Corona nur mit wenigen Aktivisten, mit ihren bunten Schirmen vor dem Kanzleramt. Live gestreamt auf allen Social-Media-Kanälen. Heinisch rief: „Wir sind nicht mehr länger bereit, beim Ausverkauf unserer Zukunft zuzusehen.“ Eine Million Stimmen und Unterschriften sind zunächst das Ziel, mit diesem Mandat soll dann politischer Druck erzeugt werden.  

Die Generationen-Stiftung ist nur eine von immer mehr Bewegungen, die nicht allein das Klima retten, sondern Wirtschaft und Gesellschaft demokratischer und nachhaltiger machen wollen. Andere sind bekannter wie Fridays for Future, wieder andere radikaler wie Extinction Rebellion. Die meisten Gruppen sind gut miteinander vernetzt. Was sie tun, sagt Franziska Heinisch, sei letztlich „Selbstermächtigung“ aus Notwehr. 

Eine Anklageschrift mit Handlungsanleitung

Heinisch und ihre Mitstreiter haben die Dinge umgekehrt, haben den ewigen Vorwurf gekontert, sie hätten keine Ahnung; sie haben ein Buch geschrieben – „Ihr habt keinen Plan. Darum machen wir einen“ –, eine Anklageschrift mit einer penibel ausgearbeiteten Handlungsanleitung für das, was nun zu tun sei. Die wichtigsten Punkte: Die Wirtschaft müsse wieder mehr dem Gemeinwohl dienen, die Klimaziele sollen eingehalten und alle Konjunkturpakete sozialen und ökologischen Zielen angepasst werden. 

Während früher die 68er gebrüllt haben „macht kaputt, was Euch kaputt macht“, sind Heinisch und andere renitent faktenorientiert, werfen keine Steine, sondern setzen auf das radikalste aller Mittel – die Wahrheit. Der Plan: Den Klimanotstand ausrufen, Kohleausstieg bis 2025, eine EU-weite CO2-Abgabe, Einführung einer solidarischen Grundsicherung und des Wahlrechts ab 14 Jahren. 

Die Coronapandemie könnte Katalysator dieser neuen Jugendbewegung sein. Oder Bremse. Schon haben Wirtschaftsvertreter gefordert, dass nun erst einmal Schluss sein müsse mit der Klimarettung.  

„Jetzt steht wieder alles auf dem Spiel“

War da was? Sind das Schmelzen der Eisschichten und der Permafrostböden vergessen, das Verschwinden vieler Arten, die weltweiten Rekordtemperaturen, die zahlreichen Brände rund um den Globus, die steigende Anzahl der Klimaflüchtlinge, das Steigen der Meeresspiegel, die Zunahme von Wetterextremen? 

Franziska Heinisch erinnert sich gut an einen Tag im März 2019, als sich in der Bundespressekonferenz Wissenschaftler aus Deutschland, der Schweiz und Österreich solidarisch mit den jungen Klimakämpfern von Fridays for Future erklärten. 26 000 Wissenschaftler schlossen sich dem Aufruf an. Heinisch sitzt vor ihrem ersten Artikel für die Wochenzeitung „Die Zeit“. Die Solidarität der Wissenschaftler, sagt sie, war „wie ein kleiner Triumph, gerade weil uns immer Unwissenheit vorgeworfen wird. Und dann kommen die Experten und sagen: Die haben doch recht.“ Es war ein Aufbruch. Ein gutes halbes Jahr später, am 29. November 2019, demonstrierten Fridays for Future in Deutschland schon zum 50. Mal. „Jetzt steht wieder alles auf dem Spiel“, sagt Heinisch. 

Vollzeitjob Aktivistin

Franziska Heinisch ist an diesem Morgen um 5 Uhr 30 Uhr aufgestanden, ist von Neukölln nach Prenzlauer Berg gefahren, um dort in ihrer Zentrale der Stiftung noch ein paar Regenschirme zu holen. Jetzt ist es 8 Uhr 30 Uhr, und zwei Polizisten vor dem Paul-Löbe-Haus, in der Bannmeile, finden die Aktion nicht gut, ob das eine Demo sei? Heinisch bleibt ruhig: „Nö. Wir gehen nur spazieren und haben hier kurz Halt gemacht.“ Der Polizist grinst. Die Aktivisten, unter ihnen auch Erwachsene von Parents for Future, ziehen weiter bis zum Finanzministerium. 

Die Arbeit als eine der Sprecherinnen der Generationen-Stiftung ist ein Vollzeitjob. Letztens stand irgendwo, dass sie Jura studiere, prompt riefen die Eltern an und fragten: „Studierst du wieder?“ Auch das hat sie geärgert, weil sie manchmal bis zu 100 Stunden in der Woche arbeite. 

Heinisch vernetzt die vielen Freiwilligen, sie macht Pressearbeit, koordiniert Treffen oder Videocalls, konzipiert und veranstaltet Workshops, jetzt eben digital, darüber etwa, wie man mit Journalisten spricht oder in Talkshows sitzt oder wie man das richtige Sprachbild für eine Aktion findet. Sie schreibt Reden, muss Technik organisieren, und immer darüber nachdenken: Wie machen wir Druck? Der Druck, den sie selbst spürt, ist oft unerträglich. Sie sagt: „Es gibt Aktivisten, die hatten schon einen Burn-out.“ 

Schellnhuber mischt sich ein

Hans Joachim Schellnhuber kann diese Last auf den Schultern der Reformer körperlich spüren. Er bestreitet diesen Kampf seit 40 Jahren, ist einer der bekanntesten Klimaforscher der Welt. Am Tag nach seinem 70. Geburtstag im Juni sitzt Schellnhuber in seinem Büro im Michelson-Haus auf dem Potsdamer Telegrafenberg und versucht, optimistisch zu bleiben. Hier, auf dem höchsten Punkt des Berges, 94 Meter hoch, wurde einst das erste astrophysikalische Observatorium der Welt gebaut. In dem Büro, in dem Schellnhuber, der Physiker, sitzt, hat Albert Einstein geforscht. Schellnhuber, der nicht nur Angela Merkel als Umweltministerin beraten hat und später die ganze Bundesregierung, sondern auch Barack Obama und den Papst, sieht man seine 70 Jahre nicht an. Aber was man erkennt, ist sein Stolz auf „diese Jugend“. 

Hans Joachim Schellnhuber feierte jüngst seinen 70. Geburstag.
Hans Joachim Schellnhuber feierte jüngst seinen 70. Geburstag.

© dpa

Er hat das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung gegründet, das mit seinen Erkenntnissen an der Spitze der Klimabewegung steht. Normalerweise sind Wissenschaftler neutral, aber Schellnhuber und seine Leute haben sich früh entschieden, sich politisch einzumischen. Das hat ihn angreifbar gemacht.  

Tragisch, dass 16-Jährige Helden sein müssen

Und so lässt ihn, auch wenn er emeritiert ist, sein Lebenswerk nicht los, vielleicht muss man sagen: sein Lebensschicksal, das darin besteht, Fakten und wissenschaftliche Erkenntnisse den Berg zu den Unwissenden hochzurollen wie Sisyphos den Stein. Trotzdem sagt er einen Satz, der ihn selbst irritiert: „Es tut mir weh, aber in diesem Kampf werden viele junge Menschen frustriert, ausgebrannt und sogar depressiv zurückbleiben. Es ist eine große Tragik unserer Zeit, dass 16-Jährige Helden sein müssen.“ 

2019 saß Greta Thunberg in seinem Büro. Schellnhuber redet nicht über sie. Aber er lässt erkennen, dass er sie bewundert und gleichzeitig große Angst um sie hat. Er habe Wissenschaftler gekannt, die sich umbringen wollten, weil man ihnen nicht geglaubt und eine Hexenjagd gegen sie begonnen habe.  

Für Schellnhuber ist die Radikalität der Jungen nichts anderes als Wahrhaftigkeit und Zivilcourage. Den Schulterschluss von Wissenschaft und Jugend für eine neue Gesellschaft hält er für einen Urknall. „Wir brauchen diese Heldinnen und Helden.“ 

„Hart, strapaziös und einsam“

Annemarie Botzki sieht sich nicht als Heldin. Die Sprecherin der Klimabewegung Extinction Rebellion sagt: „Was wir tun, ist die Emanzipation von einem System, das uns alle vernichten kann.“ Sie gibt zu, dass das oft „hart, strapaziös und einsam“ sei. Kürzlich hat die dritte Rebellionswelle stattgefunden, Mitglieder der Bewegung haben grüne Farbe in die Spree geschüttet, biologisch abbaubar, sagen sie, haben das Wirtschaftsministerium blockiert und sich vor den Häusern von Industrievertretern wie dem Bundesverband der Deutschen Industrie eingemauert. 

Annemarie Botzki.
Annemarie Botzki.

© Repro

Die 33-Jährige sitzt an einem heißen Junitag im Hinterhof des Hauses für Materialisierung nahe des Alexanderplatzes. Das Lagerhaus gehört zum Haus der Statistik, das den Hof wie eine riesige, alte Burg schützt. Hier wird Gemüse angebaut, Kräuter, Obst. Gleichzeitig arbeitet hier die Bau-AG von Extinction Rebellion, eine dezentrale Organisation, in Großbritannien gegründet, die wie die Fridays-For-Future-Aktivisten oder die Generationen-Stiftung eine grundlegende gesellschaftliche Transformation will. 

Ziviler Ungehorsam - aber keine Gewalt

Einer schleppt eine große Leinwand herbei, die an Holzbrettern befestigt ist. Die Sprayerin, die die Parolen draufsprühen soll, die vor dem Wirtschaftsministerium von Peter Altmaier landen werden, ist gerade gekommen. Während Heinisch und ihre Leute die Erwachsenen „angeklagt“ haben, erklären ihnen die Rebellen die Rebellion – „gestützt auf unser Gewissen und unsere Vernunft“, wie es heißt. Sie lehnen Gewalt ab, ziviler Ungehorsam ist erlaubt, sie ketten sich an Kohlekraftwerke oder auf Straßen und Plätze, riskieren Verhaftungen. 

Annemarie Botzki kommt wie Heinisch aus einem gutbürgerlichen Elternhaus, die Mutter ist Biologin und Imkerin, der Vater Ingenieur. Mit sechs Jahren will die Tochter Bürgermeisterin werden. Sie hat beim Nachbarskind ein Poster entdeckt, das vor dem Abholzen des Regenwalds warnt. Während der Finanzkrise studiert sie in London Politik der EU.  

Das Elitäre der Universität, auch der latente Sexismus, widert sie an; früher als Jugendliche hat sie zu Hause in Oberhausen leistungsorientiert Basketball und Tennis gespielt, in London beginnt sie zu boxen. Die Wut von Franziska Heinisch auf dieses „satte, träge System“ kennt Botzki. Sie bekommt einen Job als Reporterin für die russische Nachrichtenagentur Interfax in Brüssel und berichtet über die Energie- und Gaswirtschaft, 2013 gewinnt sie nebenbei die belgische Box-Meisterschaft in ihrer Gewichtsklasse, dann, 2015, ändert sich ihre Welt. 

Als Berichterstatterin beim UN-Klimagipfel in Paris sitzt sie im Publikum bei einem der vielen Vorträge, die auch Hans Joachim Schellnhuber hält. Es geht um das Auftauen des Permafrostbodens und den sicheren Tod aller Korallenriffe, wenn die Erde sich nur um 1,5 Grad erwärmt. Sie sagt, sie habe gedacht: „Scheiße, warum sind hier alle so ruhig?“ 

Die Gefahr springt sie an wie ein aggressives Tier. Sie entscheidet in diesem Moment, dass sie aktiv werden muss. Privat heißt das, ein Leben als Aktivistin führen, beruflich nur bei Unternehmen zu arbeiten, die „etwas verändern“. Es ist ein einsamer Entschluss. Botzki ist verletzbar, aber gleichzeitig von einer fast unheimlichen Härte beseelt. 

Extinction Rebellion hat mehr als 120 Ortsgruppen in Deutschland

Extinction Rebellion hat in Deutschland mehr als 120 Ortsgruppen in 40 Städten. Botzki arbeitet wie Lisa Neubauer, Sprecherin der deutschen Fridays-Bewegung, oder Franziska Heinisch oft bis zur körperlichen Erschöpfung. Am Telefon sagt Botzkis Mutter: „Im letzten Jahr war sie von einer starken inneren Traurigkeit erfasst.“ Der Kampf mache ihr auch körperlich zu schaffen. Die Mutter sah es und konnte doch nichts tun. Sie sagt: „Aber sie lernt. Sie kann das aushalten. Denn was sie macht, macht sie auf eine Weise glücklich.“ 

Gerhard Reese, Umweltpsychologe an der Universität Landau, sagt zu dem Spagat zwischen Glück und Last: „Wenn man fühlt, dass es um alles oder nichts geht, dann ist kollektive Wirksamkeit und das Spüren von Zusammenhalt ein sehr guter Schutzschirm, aber eine gewisse Gefahr der Selbstauszehrung durch ein chronisches Verantwortungsgefühl bleibt.“
Extinction Rebellion hat den gesamten Transformationsprozess auf drei Forderungen verkürzt: Sagt die Wahrheit, handelt und lasst Bürgerversammlungen als zusätzliche Säule der Demokratie zu. Dafür gibt es schon Beispiele. 2018 votierten 66,4 Prozent der Iren für eine Lockerung des rigiden Abtreibungsverbotes. Vorbereitet wurde diese Entscheidung von einer gelosten Bürgerversammlung. 

Annemarie Botzki und Franziska Heinisch haben ihr normales Leben durchbrochen. Sie fühlen sich gezwungen, so lange weiterzumachen, bis die Welt gerettet ist. Oder nicht mehr zu retten ist. Das sei nicht links, sagt Heinisch, nur logisch.

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