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Ort der Trauer. Susanne Fontaine ist im September tot im Tiergarten aufgefunden worden.

© Thilo Rückeis

Prozess um Mord im Berliner Tiergarten: Die zwei Gesichter des mutmaßlichen Mörders

Er ist des Mordes an Susanne Fontaine angeklagt. Er sei ein freundlicher, zurückhaltender Mann, sagen Betreuer. Vor Gericht offenbart sich das Psychogramm eines verschlossenen Einzelgängers.

Plötzlich fuhr der Verteidiger von A. der ehemaligen Lehrerin ins Wort: Sein Mandant sei angeklagt und noch keinesfalls des Mordes an Susanne Fontaine überführt. Die Pädagogin zuckte, ließ sich aber nicht beirren. Widerständig sei er gewesen, habe andere mit düsterem, „unheimlichem“ Blick „an die Wand gedrückt“ und ihr offen ins Gesicht gesagt, er schere sich nicht um ihre Ansagen: „Die Deutschen sind doof, zahlen für alles“ – er müsse hier nichts machen.

Ein Psychogramm von dem des Mordes an der Kunsthistorikerin Fontaine Verdächtigten bot dieser vierte Tag im Prozess gegen A. am Landgericht. Die Tat geschah am Abend des 5. Septembers im vergangenen Jahr im Tiergarten. Und das Bild, das A.s Lehrerin von dem Angeklagten zeichnete, ist auch nur ein Gesicht des etwa 20-Jährigen, so die Schätzungen der Gutachter. Einen ganz anderen jungen Mann lernten die Betreuer vom Sleep In in der Fasanenstraße kennen.

A. selbst saß auch am Mittwoch teilnahmslos auf der Anklagebank. Nur als die Angestellte des Spätis in Moabit zu ihm blickte, umspielte ein Lächeln die Lippen des Verdächtigten. Er schweigt. Aber mit dem, was über die polizeiliche Vernehmungen in der Verhandlung und auf den Fluren vor Saal 700 zu erfahren ist, verstrickt er sich immer tiefer in Widersprüche zu den Aussagen von Zeugen – auch an diesem Tag.

Aber der Reihe nach. Angela P. ist seit sieben Jahren Lehrerin einer „Willkommensklasse“ in der Neuköllner Hermann-von-Helmholtz-Schule. Sie lehre vor Flüchtlingen im Alter zwischen 11 bis 18 Jahren – „Buben bis erwachsene Männer“. Zu letzteren zählt sie den Angeklagten. Über die typischen Witze der 13- bis 16-Jährigen habe er nicht mehr gelacht. Und auch keinen Kontakt mit anderen Schülern gesucht. Mit einer Ausnahme: ein Jugendlicher aus Tschetschenien wie er, der ihm Anfangs aushalf. Aber auch dieser habe später den Kontakt mit A. gemieden, dessen Anrufe und Nachrichten nicht mehr beantwortet.

Im Unterricht habe sich A. nie von selbst gemeldet und wenn sie ihn befragte, habe er keine Antwort gewusst. Sofern er überhaupt in die Schule kam, was unregelmäßig geschehen sei, dann zwischen 9 und 10 Uhr, „weil er seinen Morgenkaffee“ noch einnehmen müsse, habe er erklärt – der Unterricht begann um 8 Uhr.

„Ich gehe zum IS oder den Taliban, wenn ich mit der Schule fertig bin.“

Gewalttätig sei er nicht gewesen, aber ihre Ermahnungen nur mit „diesem Blick“ und einem Grinsen begegnet, „dass ich Angst bekam“, sagt die Lehrerin. Ähnlich ging es Schülerinnen, die kein Kopftuch trugen: Diese habe A. als „Schlampen“ beschimpft. Beklagt hätten sich die Schülerinnen bei ihr und gefragt, warum A. nicht der Schule verwiesen werde. Zumal der Angeklagte mit den Worten zitiert werde: „Ich gehe zum IS oder den Taliban, wenn ich mit der Schule fertig bin.“

Aus ihrer Verzweiflung machte die Lehrerin keinen Hehl, ihrer Hilflosigkeit und den Vorwürfen, die sie sich selbst macht: „Ich habe es gewusst“, sagt sie, dass etwas passieren würde. Und aus ihren Worten schwingen Gefühle der Ohnmacht eines Menschen, der sich im Vertrauen auf seinen Bildungsauftrag ganz in den Dienste der Gemeinschaft stellt – und erstmals ein Versagen der Institutionen empfindet. Die Lehrerin hatte A.s Betreuer, das Jugendamt und alle im wohl gestrickten Netz der Hilfe- und Aufnahme-Einrichtungen Berlins um Rat und Hilfe gebeten – vergeblich.

Weil A., wenn es darauf ankam, ein anderer war? „Ruhig, zurückhaltend und eher freundlichen junger Mann.“ So wird der Tschetschene von Renate Tautz-Heims aus der „Kontakt- und Beratungsstelle Sleep In“ (Kub) beschrieben – und von ihre Kolleginnen ganz ähnlich. Weil der Mann ohne festen Wohnsitz auf das Obdach mit gesicherten Mahlzeiten angewiesen war? Im Kub hatte A. öfter übernachtet, auch die drei Abende vor dem Tötungsdelikt am 5. September und die zwei Nächte danach war er dort.

Er selbst hatte Ermittlern zufolge erklärt, bereits vor der Tat nach Polen ausgereist zu sein. Und bevor er tatsächlich den Zug bestieg, um zu seiner Familie zu reisen, hatte er Betreuerinnen im Kub signalisiert, jetzt einen festen Platz in einer anderen Einrichtung gefunden zu haben. Warum nur?

„Es war das einzige Mal, dass ich ihn betrunken gesehen habe“

Zum Widersprüchlichen zählt auch A.s auffälliges, weil ungewöhnliches Verhalten einen Tag nach dem Tiergarten-Mord: Am 6. September vergangenen Jahres sei er im Kub „schwankend reingekommen“. Ein Zimmer neben der Toilette hätten sie ihm gegeben, einen Eimer dazu, für den Fall dass ihm schlecht werde. „Es war das einzige Mal, dass ich ihn betrunken gesehen habe“, sagt eine Betreuerin.

Eine Flasche Wodka und ein paar Bier will A. in jener Nacht in einem Späti in Moabit getrunken habe. Doch die Verkäuferin erinnert sich daran nicht. Und die Verkaufslisten bestätigten nach Angaben von Ermittlern deren Aussage: eine Wodka-Flasche sei nicht verkauft worden an diesem Tag. Auch die Verkäuferin erzählt von einem zurückhaltenden, aber freundlichen Kunden, der zwei bis drei Mal in der Woche in der Mittagszeit in den Späti mit Internet-Cafe kam, Cola oder Fanta trank und an einem Computer im Internet surfte. Alkohol habe der nicht getrunken und schon gar nicht habe sie ihn betrunken erlebt.

Erstmals kommen vor Gericht die Straftaten des Angeklagten zur Sprache, dass er eine Haftstrafe verbüßt hatte. Auf den Fluren vor Saal 700 erzählen Prozessbeobachter davon, dass A. erst durch Fahrrad-Diebstahl, später Handtaschen-Raub und schließlich durch Gewalttaten an älteren Frauen auffällig geworden sei. Der Mord wird in dieser Lesart gleichsam als grausamer Höhepunkt einer sich steigernden Enthemmung unterstellt – aber der Angeklagte bestreitet die Tat.

So bleibt das verstörende Bild eines verschlossenen Einzelgängers, der im besten Falle – und immer wenn es darauf ankam – freundlich reagierte, aber zurückhaltend, und sich so seinen Weg durch die Hilfseinrichtungen Berlins ebnete. Ob er denn jemals etwas über seine Absichten und Ziele in Deutschland berichtet habe, fragte der Vorsitzende Richter wiederholt. Keinem der Betreuer hatte sich A. dazu jemals anvertraut.

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