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Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung.

© Christine Fenzl

Programm gegen sexuellen Missbrauch an Schulen: "Vom Schweigen profitieren nur die Täter"

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hat am Montag mit Brandenburgs Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) das Programm "Schule gegen sexuelle Gewalt" gestartet. Im PNN-Interview spricht er über Gefahren in der realen und der virtuellen Welt.

Herr Rörig, Sie starten gemeinsam mit dem Bildungsministeirum das Programm „Schule gegen sexuelle Gewalt“. Auch in Brandenburg gibt es ja bereits Programme zur Gewaltprävention an Schulen. Das Thema sexuelle Gewalt, so scheint es, wird dabei ausgeklammert. Warum ist das so?

Missbrauch ist ein schwieriges Thema, es ist nicht leicht, das im schulischen Kontext anzusprechen. Deswegen setzen sich Schulen meist erst mit sexueller Gewalt auseinander, wenn es einen konkreten Verdacht gibt und die Schule Tatort geworden ist. Erst dann wird geschaut: Was müssen wir eigentlich tun, um Übergriffe zu verhindern? Das ist aber zu spät. Ziel der Initiative ist es, dass sich Schulen mit entsprechender fachlicher Unterstützung durch uns bereits vorher mit dem Thema auseinandersetzen. Schutz und Hilfe bei sexueller Gewalt zu bieten, sollte ein Qualitätsmerkmal von Schulen werden.

Vergangenes Jahr wurde in der Prignitz Anklage gegen eine Schulgesundheitsfachkraft wegen sexuellen Missbrauchs in sechs Fällen erhoben. Wie lassen sich solche Übergriffe in der Schule verhindern?

Das ist ein ganzer Baukasten unterschiedlicher Maßnahmen, die bedacht werden müssen, um eine Schule so sicher zu machen, dass sie selbst kein Tatort wird, sondern ein Schutzort ist für Schülerinnen und Schüler. Dazu zählen unter anderem räumliche und bauliche Fragen: Wie ist der Zugang zu unserer Schule geregelt? Wie sind sensible Bereiche wie Umkleiden, Duschen und Toiletten gestaltet? Und dann: Haben wir in unserer Schule eine qualifizierte Ansprechperson? Gibt es ein für alle Schülerinnen und Schüler zugängliches und passendes Beschwerdesystem? Wie nehme ich die Eltern mit und wie beteilige ich die Schülervertretung? Wir geben den Schulleitern und Lehrern mit unserer Initiative auch Sprache zu dem Thema. Es ist meist so, dass schon die richtigen Worte zu diesem heiklen, schambesetzten Thema fehlen.

Besteht nicht auch die Gefahr, dass in der Schule ein Klima des Misstrauens entsteht, überall Gefahr gewittert wird, wenn das Thema Missbrauch so in den Fokus genommen wird?

Ein guter Umgang mit dem Thema kann nur gelingen, wenn von vorneherein transparent damit umgegangen wird – und nicht erst, wenn ein Verdacht aufgekommen ist. Es ist besser, sich vorher Gedanken zu machen und die Augen nicht zu verschließen. Vom Schweigen profitieren nur die Täter.

Die sich häufig in der Familie finden.

Ja, das ist leider so. Zumeist findet sexueller Missbrauch in der Familie und im sozialen Umfeld statt, auch durch Gleichaltrige und vermehrt im Netz. Als ich vor sieben Jahren als Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung meine Arbeit aufgenommen habe, wurde Deutschland vorher durch die bekannt gewordenen Missbrauchsskandale am Canisius-Kolleg und der Odenwaldschule erschüttert. Da waren Schulen die Tatorte. Natürlich sollen Schulen keine Tatorte werden, darum geht es natürlich. Aber eben nicht nur: Wir arbeiten mit „Schule gegen sexuelle Gewalt“ intensiv daran, dass Schule sich als Schutzort sieht, als einen Ort, wo Schülerinnen und Schüler Wege zur Hilfe finden können, wenn sie Missbrauch erlitten haben - ganz gleich wo und durch wen und ein Ort, an dem Prävention zum pädagogischen Alltag gehört.

Sie haben gerade Missbrauch unter Gleichaltrigen angesprochen. In Potsdam gab es vor einigen Jahren so einen Verdachtsfall an der renommierten Sportschule, der diese stark erschütterte. Wie sollten Schulen reagieren, wenn so ein Verdacht aufkommt?

Sexuelle Gewalt unter Schülerinnen und Schülern ist eine wirklich schwierige Herausforderung für eine Schule. Dass Übergriffe unter Jugendlichen nicht selten sind, zeigt eine aktuelle Studie des hessischen Kultusministeriums, für die 14- bis 16-Jährige befragt wurden. Demnach sind andere Jugendliche sogar das Hauptrisiko für sexualisierte Gewalt. Das reicht von sexuellen Witzen oder abwertenden Kommentaren über den Körperbau über das Zwingen, pornografische Bilder oder Filme anzusehen bis hin zu körperlichen Gewalterfahrungen: Knapp ein Viertel der befragten Jugendlichen gab an, schon einmal von Gleichaltrigen gegen ihren Willen angetatscht, geküsst oder am Geschlechtsteil berührt worden zu sein. Wichtig ist, dass eine Fachkraft in der Schule, wenn sie davon Kenntnis erlangt, ganz klar sagt: Das wird nicht akzeptiert und toleriert. Das ist auch wichtig für den Betroffenen, er muss wissen: Ich muss mich mit dem, was geschehen ist, nicht abfinden, das wird an meiner Schule nicht geduldet. Diese Sicherheit ist für die weitere Entwicklung sowohl des geschädigten Jugendlichen („Hilfe holen ist ok“) als auch des übergriffigen Jugendlichen („mit diesem Verhalten komme ich nicht weiter“). entscheidend. Wenn es zu strafrechtlich relevanten Übergriffen gekommen ist, müssen die Schulbehörde und gegebenenfalls die Polizei informiert und die Eltern einbezogen werden.

Es heißt, dass Kinder und Jugendliche durch das Internet heute früher und anders sexualisiert werden. Auf dem Handy werden Pornos geschaut, untereinander anzügliche Bilder verschickt. Werden dadurch auch Grenzen verschoben?

Das mag überraschen, aber ich bin auch als Missbrauchsbeauftragter nicht gegen Sexting. Wenn Jugendliche in der Pubertät untereinander sexualisierte Bilder austauschen, dann ist das Teil der persönlichen Entwicklung. Das Schlimme ist nur, wenn solche Bilder gegen den Willen weitergeleitet werden. Viele Jugendliche können rechtlich und ethisch nicht einschätzen, was sie da tun, welcher Belastung sie die Ex-Freundin oder den Ex-Freund damit aussetzen. Deswegen bin ich der Meinung, dass ein intelligentes Schulfach "Digitale Medien und Medienkompetenz" eingeführt werden muss, und zwar von der ersten bis zur zehnten Klasse, bundesweit. Kinder- und Jugendschutz findet im Netz weitgehend nicht statt. Eltern fehlt oft die Netzkompetenz, sie hoffen, dass Schule und Staat sie in dem Punkt unterstützen – das zeigt eine aktuelle Erhebung der Universität Ulm. Gerade auch im Hinblick auf Missbrauch gilt: Wir dürfen die Kinder im Netz nicht alleine lassen.

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