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POSITION: Weniger wäre mehr

Die Landesverfassung weckt Erwartungen, die enttäuscht werden In diesen Tagen wird der 20. Geburtstag der Brandenburger Verfassung gefeiert. Warum unserer Landesverfassung eine Diät guttun würde.

Bei Geburtstagsfeiern stört man ungern mit kritischen Anmerkungen. Aber eine Landesverfassung ist ja nicht die Großmutter, der man aus wohlverstandener Rücksicht und Dankbarkeit besser nicht alles sagt, was man auch noch weiß und denkt über ein langes Leben. Und unsere Landesverfassung wird auch nicht 80, sie ist gerade mal 20 Jahre alt.

Ich kann in die euphorischen Lobpreisungen nicht einstimmen, die derzeit das politische Leben Brandenburgs bestimmen. Unsere Landesverfassung wird von Sozialdemokraten und Sozialisten mit einem hohen Anspruch verbunden. Sie war die erste der in den neuen Bundesländern erarbeiteten und sollte Zeichen setzen, insbesondere in Bezug auf die in ihr formulierten sozialen Teilhaberechte. Das Ergebnis ist aus meiner Sicht allerdings nicht etwa vorbildlich, sondern vielmehr ernüchternd.

Auf den ersten Blick erscheint es zwar als eine überflüssige, aber prinzipiell durchaus akzeptable Übung, wenn beispielsweise der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes wiederholt wird. Doch es bleibt ja nicht dabei. In Brandenburg wurde nachgebessert, was keiner Verbesserung bedarf. Beispielhaft dafür ist der Artikel 7 der Landesverfassung, der wie Artikel 1 des Grundgesetzes die Menschenwürde schützt. Und wie im Grundgesetz beginnt er mit einfach formulierten Sätzen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ In Brandenburg wird dieser völlig ausreichende Satz mit „und Grundlage jeder solidarischen Gemeinschaft“ verlängert. Und dann folgt noch ein weiterer: „Jeder schuldet jedem die Anerkennung seiner Würde.“

Dieser so ausformulierte Artikel 7 ist exemplarisch für ein ebenso krampfhaftes wie fragwürdiges Bemühen, Eigenständigkeit zu beweisen. Und er wirft zwangsläufig die Frage auf, ob mit solchen Textpassagen tatsächlich etwas erreicht wird. Für ein Land, das sich in preußischer Tradition sieht, passt solch ein schwülstiger Verfassungsbarock ohnehin nicht. Und es deutet auch nichts darauf hin, dass mit solch wunderbaren Absichtserklärungen irgendetwas an zusätzlichem Gewinn für die Menschenwürde erreicht worden wäre. Denn gerade dieser Katalog an Teilhaberechten, die die Landesverfassung beschreibt, ist höchst problematisch. Da wird die Politik verpflichtet, sich um das „Recht auf eine angemessene Wohnung“ zu bemühen. Da wird nicht nur ein Recht auf Arbeit und eine Politik der Vollbeschäftigung propagiert, sondern auch jedem versprochen, „seinen Lebensunterhalt durch freigewählte Arbeit zu verdienen“.

Damit geht die Brandenburgische Landesverfassung nicht nur weit über das hinaus, was sinnvollerweise im Rahmen einer Verfassung geregelt werden soll und kann. Sie entwirft tatsächlich ein Gegenmodell zur wirtschaftlichen und sozialen Ordnung der Bundesrepublik, das aus vielen Gründen nicht die geringste Chance hat, verwirklicht zu werden. Es kann bei einer marktwirtschaftlich gestalteten Wirtschaftsordnung kein Recht auf staatlich garantierte Beschäftigung geben. Und in der Bundesrepublik kann der Staat zwar seinen Beitrag zu einer angemessenen Wohnungsversorgung leisten, aber garantieren kann er sie sicher nicht. Wer etwas Unerreichbares als verfassungsunmittelbares Staatsziel propagiert, der riskiert bewusst oder unbewusst die Glaubwürdigkeit der Verfassung.

Da solcherlei Überlegungen hierzulande gern und schnell als neoliberale Flausen abgetan und diffamiert werden, seien an dieser Stelle die Erinnerungen von Carlo Schmid, Sozialdemokrat und einer der Väter des Grundgesetzes, zitiert: „Auch gegen die von vielen gewünschte Einführung sogenannter sozialer Grundrechte, an denen die Weimarer Verfassung so reich gewesen ist, habe ich mich energisch gewehrt, waren sie doch nichts anderes als Programme oder Tautologien oder Kennzeichnungen der Zustände, die bei vernünftigem Umgang mit den klassischen Grundrechten aus den politischen Auseinandersetzungen hervorgehen sollten.“

Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes war schon aus der Erfahrung der Weimarer Republik sehr bewusst, dass zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit keine zu große Lücke klaffen darf. Die weise Konsequenz daraus war ein Katalog klar formulierter und weniger, dafür aber unmittelbare Geltung beanspruchender und für die Bürger einklagbarer Grundrechte. Hätten die Erfahrungen mit Verfassung und Verfassungswirklichkeit in der DDR nicht Anlass geboten, umso zurückhaltender mit allzu umfangreichen Verheißungen in der Verfassung zu sein? Die Brandenburger Landesverfassung aber weckt Erwartungen, die notwendigerweise enttäuscht werden. Das ist ein Spiel mit gezinkten Karten, das Missverständnisse heraufbeschwört. Nun ist der Verfassungstext das eine. Das andere ist die Verfassungskultur. Der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat einmal treffend gesagt, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Dazu gehört zum Beispiel das Bewusstsein, dass in einer Demokratie unterschiedliche Meinungen, Weltanschauungen und ganz konkrete politische Konzepte nicht nur erlaubt, sondern erwünscht, ja notwendig sind. In unserer Landesverfassung wird die Opposition denn auch als wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie bezeichnet und ihr Recht auf Chancengleichheit betont. Doch in Brandenburg wird regelmäßig vollständiger Konsens als Ausweis politischer Kultur gerühmt, der Verweis auf breite Mehrheiten ersetzt allzu schnell die engagierte Auseinandersetzung in der Sache. In den Plenardebatten haben alle Oppositionsfraktionen zusammen regelmäßig höchstens ein Drittel der Redezeit. Das letzte Wort hat immer die Regierung. Es sei denn, sie verzichtet großmütig. Die Leitung der Plenarsitzungen liegt immer bei Vertretern der Regierungsfraktionen. Erwachsene Demokratie sieht anders aus.

Andere Bundesländer wie beispielsweise unser Nachbarland Sachsen sind vorsichtiger, weniger vollmundig vorgegangen bei ihrer Verfassungsgebung. Sie haben sich bewusst auch auf die Erfahrungen aus zwei Diktaturen bezogen und damit verdeutlicht, dass der Bezug auf die bewegten Zeiten des Herbstes 1989 alleine wohl nicht ausreicht. Die Brandenburgische Landesverfassung, die sich vor allem als ein Dokument dieser Zeit versteht, bedarf heute eher der Anpassung als des konservierenden Lobes. Aus meiner Sicht ist dafür vor allem die Beschränkung auf das Wesentliche wichtig – also so etwas wie eine Potsdamer Verfassungsdiät.

Die Verfassung ist kein Regierungs- oder gar Parteiprogramm. Sie schöpft ihre Kraft, ihre Unverbrüchlichkeit gerade daraus, sich auf ein notwendiges Minimum an Regeln zu beschränken. Regeln, derer es für das Funktionieren eines freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates bedarf. Es ist nicht ihre Aufgabe, im Sinne eines geschlossenen ordnungspolitischen Verfassungsperfektionismus möglichst auf jede – aktuelle oder potenzielle – gesellschafts-, sozial- oder wirtschaftspolitische Frage schon verfassungsunmittelbare Antworten zu geben. Zeitgemäße Antworten auf politische Probleme, das Ringen um die richtigen Ziele und politische Wege dorthin – das alles sollte dem so ungeliebten Streit, dem politischen Wettbewerb überlassen werden. Modern zu sein ist demnach ein zweifelhaftes Lob für eine Verfassung. Weniger wäre hier mehr.

Die Autorin ist rechtspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Landtag Brandenburg.

Linda Teuteberg

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