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Brandenburg: Polizei reagierte „ungeübt“ auf Terroranschlag Interner Bericht spricht von Versäumnissen

Fahndung erst drei Stunden nach der Tat ausgelöst

Berlin - Nach dem Terrorakt am Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 soll es zu schweren Versäumnissen bei der Polizei gekommen sein. Dies geht aus einem unveröffentlichten, internen Bericht der Behörde hervor. Das Papier, in der Kurzfassung 23 Seiten lang, liegt dieser Zeitung vor. Darin heißt es: „Trotz antizipativer Planentscheidungen und Vorbereitungen wurde am 19.12.2016 und besonders an den Folgetagen die vorgesehene Konzeption (...) nicht wie geplant umgesetzt.“ So hat die Polizei offenbar mehr als drei Stunden gebraucht, bis sie die bei Amokläufen und Anschlägen vorgesehenen umfassenden Fahndungsmaßnahmen einleitete. In den ersten Stunden suchten Beamte das Gebiet rund um den Breitscheidplatzes demnach nicht sorgfältig ab, kontrollierten Straßen und Bahnstrecken unzureichend. Der Attentäter, der tunesische Asylbewerber Anis Amri, habe so ungehindert entkommen können.

Die Ermittler im Landeskriminalamt (LKA) gingen zwar bald nach dem Angriff auf den Weihnachtsmarkt von einem Terrorakt aus. Der Polizeiführer stufte die Vorgänge aber zunächst als „Verdacht Amoklage“ ein, verzichtete jedoch auf die intern „Maßnahme 300“ genannte Sofortfahndung. Ein Grund dafür könnte gewesen sein, dass Polizisten nur rund 30 Minuten nach dem Anschlag einen Tatverdächtigen am Tiergarten festgenommen hatten. Bald stellte sich heraus, dass er nicht der Attentäter ist. Im Bericht ist von einer „ungeübte(n) Führungsgruppe“ am Einsatzort die Rede, polizeiliches Handeln sei teilweise „intuitiv“ erfolgt.

Die erwähnte „Maßnahme 300“, eine Art vollumfassende Fahndung, wurde erst um 23.08 Uhr ausgelöst – drei Stunden, nachdem Amri mit einem geraubten Lastwagen ein Massaker angerichtet hatte. In Brandenburg, Thüringen und Bayern wurde die umfassende Fahndung bereits kurz vor beziehungsweise kurz nach 21 Uhr eingeleitet. Amri wurde nach dem Attentat auf der Flucht von Polizisten in Italien erschossen.

Die Langfassung des Berichts der polizeiinternen Nachbereitungskommission umfasst 120 Seiten. Polizeipräsident Klaus Kandt soll mit dem Bericht über Wochen unzufrieden gewesen sein, wie es aus dem Abgeordnetenhaus und dem Senat hieß. Schwere Vorwürfe erhebt der FDP-Innenpolitiker Marcel Luthe: „Die Berliner Polizeibeamten machen eine hervorragende Arbeit, aber die aus politischem Kalkül eingesetzten Funktionäre an der Spitze sind offenbar nicht mit der Lösung, sondern allein der Vertuschung der Probleme beschäftigt.“ Noch handelt es sich bei dem Bericht wohl um eine Zwischenfassung. Ein Sprecher von Innensenator Andreas Geisel (SPD) sagte, die internen Ermittlungen hätten die Abläufe selbstkritisch beleuchten sollen – genau dies sei geschehen.

In der Polizei ist in den vergangenen Jahren viel umstrukturiert worden. Das Präsidium hatte eine eigens auf Großlagen ausgerichtete „Direktion E“ gegründet, für die Tausende der stadtweit 16 700 Vollzugsbeamte arbeiten. Nur sei vor dem Anschlag zu wenig Zeit für ausreichende Übungen gewesen – und die Behörde zu knapp aufgestellt. Das sagte Michael Böhl, der Landeschef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Die Beamten der Direktion E werden üblicherweise auch für andere Aufgaben eingesetzt – sie regeln den Verkehr, schützen Konzerte, begleiten Kundgebungen. „Die Umstrukturierungen der Polizei waren richtig“, sagte Böhl. „Nur nützen sie auf dem Papier wenig, wenn sie nicht erprobt werden können.“ Dass am Tattag genug Einsatzkräfte verfügbar waren, hängt wohl damit zusammen, dass sich viele Polizisten außer Dienst freiwillig meldeten. In dem Bericht wird angeregt, die begonnenen Maßnahmen durchzuführen, darunter auch: „Neues Führungsmodell implementieren“. Rund 60 000 Menschen zogen 2016 nach Berlin. Es gibt mehr Demonstrationen, Regierungsbesuche, Gruppengewalttaten als in anderen Städten des Landes. Noch im Jahr 2001 arbeiteten 18 000 Vollzugskräfte bei der Polizei.

Unabhängig von der polizeiinternen Aufarbeitung hatte der Senat einen Sonderermittler eingesetzt. Ex-Bundesanwalt Bruno Jost hatte im Juli vor dem Innenausschuss des Abgeordnetenhauses berichtet, dass LKA-Beamte nach dem Anschlag wohl Akten nachbearbeitet hatten. So soll der intern als gewerbsmäßiger Dealer bekannte Anis Amri danach als „Kleindealer“ zurückgestuft worden sein – vielleicht, um zu rechtfertigen, weshalb der Asylbewerber nicht verhaftet wurde.

Hannes Heine/Fatina Keilani

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