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Interaktion. Sensibel müssen Erzieher sein, um auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können.

© Waltraud Grubitzsch/dpa

PNN-Interview: Frühkindliche Bildung: "Zentral ist, dass man feinfühlig ist"

Sozialwissenschaftlerin Frauke Hildebrandt über Qualitätsstandards in Kitas und überforderte Erzieher

Von Helena Davenport

In der Fachhochschule Potsdam fand von Donnerstag bis Freitag die erste Pina Conference zur frühkindlichen Bildung statt. Sozialwissenschaftlerin Frauke Hildebrandt zur aktuellen Situation in Brandenburg

Frau Hildebrandt, welche Bedeutung hat frühkindliche Bildung?
In den letzten 30 Jahren ist deutlich geworden, dass Kinder spätestens seit ihrer Geburt lernen. Durch unsere Arbeit wissen wir, dass das, was in den ersten drei, vier Jahren gelernt wird – gerade Sprache – viel stärker emotional und körperlich konnotiert ist. Kurz: Was man da lernt, ist die Basis. Das Allerwichtigste passiert vor der Schule.Was man sich zutraut, wie man einsteigt in den weiteren Wissenserwerb – dafür wird sehr früh der Grundstein gelegt. 

Was heißt das für Integration? 
Das bedeutet nicht, dass Kinder, die einen Migrationshintergrund haben, wenn sie in Deutschland ankommen, sofort in eine deutsche Kita gehen müssen. Ganz zentral ist hier die Frage, wie die Beziehungen und wie die Anregungen im Elternhaus sind. In Deutschland ist schließlich die Bildungsbiografie, im Endeffekt also die soziale Spaltung, stark an das Elternhaus gebunden. Es gibt ein Experiment mit Ratten: Wenn junge Ratten mit anderen jungen Ratten interagieren, sind sie kognitiv viel fiter, sie lernen viel mehr. Wenn ein Kind in eine brandenburgische Krippe kommt, in der die Kinder alle gleich alt sind, aber nicht miteinander sprechen, weil sie noch nicht sprechen können, ist das nicht förderlich. Wenn dieses Kind zuhause Geschwister hat, die zwar älter sind, die aber miteinander reden, so ist es wohl für das Kind besser, zuhause zu bleiben. Obwohl es natürlich generell richtig ist, wenn Kinder vor der Schule in einer Kindertageseinrichtung sind.

Was macht die Qualität in einer Kita aus?
Die Forschung zeigt, dass der Betreuungsschlüssel die Kitaqualität nur zu 30 Prozent beeinflusst. Das heißt, es ist wichtig, mehr Leute zu finden. Aber das heißt auch: Mehr Leute sind nicht immer das, was man braucht. Manchmal sind sogar weniger gute Leute besser als viele schlechte. Erzieher müssen mehrere Fähigkeiten haben: Sie müssen für gute Interaktionssituationen zwischen sich und einem einzelnen Kind und sich und der Gruppe sorgen. Sie müssen es schaffen, dass die Kinder unter sich interagieren und sie müssen die räumliche Umgebung so einrichten, dass die Kinder mit den Dingen interagieren. 

Wie sieht die Interaktion zwischen einem Erzieher und einem Kind denn idealerweise aus?
Zentral ist, dass man feinfühlig ist. Wenn ein Kind beispielsweise eine Kugel findet und mit dieser Kugel ankommt, kann der Erzieher die Kugel bemerken und dem Kind Worte für sie schenken. Er kann sie aber auch bemerken und nichts sagen – aber das ist schlecht. Es gibt viele Techniken, die nicht besonders zeitaufwendig sind. Es wird ja immer gesagt, dass es keine Zeit gibt. Das stimmt auch. Aber die Frage ist, wie man die Zeit nutzt. Man muss eingehen auf das, was vom Kind kommt, und sich selbst dazugeben. 

Und was läuft falsch in brandenburgischen Kitas?
In allen ostdeutschen Ländern gibt es einen schlechteren Personalschlüssel als in den westdeutschen Ländern. Zwar wird der Personalschlüssel schon verbessert, was unheimlich teuer ist, aber das reicht noch immer nicht. Was hinzukommt, muss man vorsichtig formulieren: Man sieht oft noch die DDR. Man hat hier ein Kindbild, das weniger stark darauf ausgerichtet ist, die Bedürfnisse der Kinder ganz individuell aufzugreifen. Einordnung in die Gruppe gilt als besonders wertvoll, scharf gesagt: ,Wir sind hier doch nicht bei Wünsch dir was!’ Die Kinder sollen die eigenen Bedürfnisse runterfahren für die Allgemeinheit. Es gibt zum Beispiel immer noch die Situation, dass Kinder zusammen auf den Topf gesetzt werden. Den plakativen Gegensatz findet man in Kreuzberg. Hier gibt es eine Blase, in der man davon ausgeht, dass alles vom Kind selbst kommt. Es ist aber weder richtig, dass alles vom Kind selbst kommt, noch dass der Erzieher ständig reglementieren muss. Der Erzieher muss ansprechbar sein, initiativ und die Themen gemeinsam mit den Kindern weiterentwickeln. 

Und wie sieht es mit den Inhalten aus?
Ein weiteres Problem ist, dass die Erzieherinnen und Erzieher dazu angehalten sind, Bildung zu organisieren. Das soll allerdings alltagsingegriert geschehen und das ist schwer. Schlecht ist es, wenn das in instruktive Angebote mündet, die die Motivation der Kinder nicht aufnehmen. Man kennt das aus schlechten Schulen – hier ist Bildung die Vermittlung von etwas, die Kinder kriegen irgendetwas erklärt. Genau wie Lehrer in der Schule, sollen Erzieher aber die Interessen der Kinder aufgreifen. Oft ist es aber der Fall, dass das Bildungsangebot als zusätzliches Angebot dazukommt, dass dieses gar nicht andockt an das, was vom Kind kommt. Dabei weiß man, dass das viel effektiver wäre. Und Andocken geht immer: Man kann zum Beispiel die Steine zählen, die das Kind gesammelt hat, und überlegen, warum die so schwer sind.

Was passiert denn in der Entwicklung des Kindes, wenn es während dieser frühen Phase nicht herausgefordert wird?
Während dieser Zeit müssen viele Anregungen passieren. Kinder lernen viel früher, ins Abstrakte zu denken, wenn sie einen Erzieher haben, der mit ihnen nicht nur beschreibt, welche Farbe die Tasse hat und wofür die Tasse da ist, sondern hinterfragt, warum Menschen überhaupt Henkel an Tassen bauen. Gemeinsam zu überlegen, warum die Welt so ist wie sie ist und wie sie anders sein könnte, ist enorm wichtig für soziale, kognitive und emotionale Kompetenzen der Kinder. Wenn die Erzieher, während sie über sich selbst reden, mentale Begriffe benutzen, also sagen, was sie fühlen, denken, vermuten, dann können die Kinder besser einen Perspektivwechsel vornehmen. Sie können sich dann besser in andere hineinversetzen. Und wer sich in andere hineinversetzt, kann sich auch in sich selbst hineinversetzen und lernt so, die eigenen Emotionen zu regulieren.

Was kann Brandenburg besser machen?
Ich bin nicht dafür, zu definieren, welche Lernziele Kinder erreichen müssen, aber Qualitätsstandarts für Kindertagesstätten könnten stärker definiert werden. Und der zweite Punkt: Wir haben keine Praxisberatung. Wir brauchen mindestens einen Praxisberater für maximal 20 Einrichtungen. Im Landkreis gibt es Praxisberater, die sind für 150 Kitas zuständig. Dann gibt es noch interne Berater von Trägern. Aber wir brauchen ein systematisches Modell, das die Qualitätsentwicklung unterstützt. Wenn ein Kind sechs Stunden lang in einer exzellenten Krippe ist, dann schadet es dem Kind nicht. Aber es ist bekannt, dass gerade die kleinen Kinder häufig bis zu zehn Stunden in Krippen verbringen, die keine hohe Qualität haben. Und das wird gerade unter den Teppich gekehrt. Brandenburg braucht Fortbildungen, Coachings, Qualitätsmanagement, und mehr Leute im System, die besser ausgebildet sind. Wir sind noch lange nicht da, wo wir hin müssen. 

Wie viele Studiengänge wie den Masterstudiengang „Frühkindliche Bildungsforschung“ von der Fachhochschule und der Universität Potsdam gibt es?
In Brandenburg gibt es keinen. In Deutschland gibt es mittlerweile etwa 80 Bachelorstudiengänge dieser Art. Aber wir haben den ersten Kooperationsmaster mit einer Universität. Während in Schweden etwa 50 Prozent der Leute, die in Kitas arbeiten, einen Hochschulabschluss haben, sind es in Deutschland null Prozent. Ich möchte nicht, dass die Erzieher alle Hochschulabsolventen sind, aber ein Mix wäre klasse. Hinzu kommt, dass es für den Bachelorstudiengang ungefähr 65 Studienplätze gibt. Es bewerben sich aber zwischen 400 und 500 junge Leute. Wir hätten also genug Leute. Aber das muss alles ausgebaut werden und das dauert natürlich. Bildungsforschung ist viel zu oft nur Bildungsforschung in Schulen und nicht in Kitas. Wir beschäftigen uns auch damit, die Interaktionsformate, die sich in der Forschung als besonders wirksam herausstellen, in die Praxis zu transferieren. Außerdem sind wir gerade dabei, ein Graduiertenprogramm aufzubauen. Es ist eben nicht nur wichtig, direkt vor Ort zu gucken, sondern man muss auch darüber Professionalität schaffen, damit die Leute, die an den Schaltstellen sitzen, wissen worauf es ankommt. Die Kita hat noch immer eine viel zu kleine Lobby. Wir in diesem Studiengang kämpfen dafür, dass die Gesellschaft sieht, wie wichtig die Kita ist. 

Jetzt gibt es das Gute-Kita-Gesetz. Was bringt das Brandenburg?
Früher war es so, dass der Bund sich Projekte ausgedacht hat, und diese parallel zu den Strukturen, die die Länder etabliert haben, über die Nation geschickt hat. Die Hälfte der Zeit ging dafür drauf, zu koordinieren. Durch das neue Gesetz hat das Land die Möglichkeit, sich selbst Ziele zu setzen. Es ist also nicht mehr so, dass der Bund selbst aktiv wird, sondern er stellt die finanziellen Mittel zur Verfügung. Das ist die Hauptsache. Das ist effektiver. Denn solange wir föderal verfasst sind, muss der Weg über die Länder führen.

Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass Brandenburg durch das Gesetz benachteiligt wird, weil nicht die Anzahl der Kinder, die in Kitas sind, berücksichtigt wird?
Das weiß ich nicht. Zu wenig Geld ist das sowieso. Das sind 5,5 Milliarden für 16 Bundesländer. Es muss mehr Geld geben, aber im Prinzip ist es der richtige Weg. Hier existieren spezifische Probleme. Im Westen ist wirklich eher Quantität gefragt. Hier muss die Qualität verbessert werden. 

Eltern in Brandenburg müssen für das letzte Kitajahr jetzt keine Beiträge mehr zahlen. Was sagen Sie dazu?
Im Prinzip finde ich es total richtig, zu sagen: Wir müssen dafür sorgen, dass Bildung kostenfrei ist, und zwar von der Wiege bis zur Bahre. Das ist eine sozialdemokratische Idee, die ich vernünftig finde. Andererseits muss man ja immer abwägen. Wenn nun nur ein bisschen Geld zur Verfügung steht und man schauen muss, was die wichtigsten Aufgaben sind, hätte ich es wichtiger gefunden, das Geld in die Qualitätsentwicklung zu stecken. Es gibt ja auch viele Eltern, die gern etwas zahlen würden, wenn es dann besser werden würde. Ich hatte versucht, intern dagegen zu diskutieren, aber jetzt ist es auf der Agenda und ich finde es auch vernünftig, das durchzuziehen.

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Frauke Hildebrandt, 49 Jahre, ist Studiengangsleiterin des gemeinsamen Masterstudiengangs „Frühkindliche Bildungsforschung“ der Fachhochschule und der Universität Potsdam.

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