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Brandenburg: Nicht ohne ihre Mutter

Eine Flüchtlingsfamilie wurde von deutschen Behörden getrennt und nach Polen abgeschoben. Wir haben sie dort besucht

Von Sandra Dassler

Gupa - Er hat keinem hier von seiner Situation erzählt – nicht dem Heimleiter, auch nicht der Frau von der Flüchtlingsorganisation. Dabei geht es ihm schlecht, besonders nachts, wenn er auf der Matratze zwischen seinen vier Kindern liegt. Dann kommt die Angst. Und die Sehnsucht nach seiner kranken Frau in Deutschland – mehr als 500 Kilometer weg von diesem Heim, irgendwo zwischen Warschau und Danzig.

Morgens ist es besser. Zelman A., der vor eineinhalb Jahren mit seiner Familie aus Tschetschenien flüchtete, muss um fünf Uhr aufstehen und Frühstück machen. Die beiden älteren Söhne fahren um halb sieben mit dem Bus ins zehn Kilometer entfernte Gymnasium. Die Jüngeren, Linda und Magomed, müssen erst um sieben hoch, ihre Grundschule ist nur ein paar Häuserblocks weiter.

Wenn die Kinder weg sind, kommt die Angst zurück. Zelman A. läuft um die Wohnblocks, seine Gedanken kreisen um jenen 15. Juli. Hat er etwas falsch gemacht? Hätte er sich weigern sollen, mit den Kindern in die Polizeiautos zu steigen, die im Morgengrauen vor dem Flüchtlingsheim in Wandlitz vorfuhren? Er hat ihnen doch gesagt, dass Zaina B., seine Frau, im Krankenhaus liegt, hat erst im Flugzeug nach Warschau begriffen, dass sie nicht da war. Acht Wochen ist das jetzt her und Zelman A. lebt nur für die paar Minuten am Abend, wenn er und seine Kinder auf einer Matratze zusammenrücken und Zaina B., die an Epilepsie leidet, im Krankenhaus Bernau anrufen.

Die Ausländerbehörde des Landkreises Barnim hat am 15. Juli ein Tabu gebrochen. Bisher sei nur ein Fall aus Bayern bekannt, wo bei einer Rücküberführung nach Polen eine Familie getrennt wurde, heißt es beim Flüchtlingsrat. In Wandlitz, wo die Familie lebte, gab es Proteste – über 1000 Menschen unterschrieben wie berichtet eine Petition an den Bundestag.

Die 12-jährige Linda und ihre Brüder Mayrbek (16), Magabi (15) und Magomed (10) wissen nichts von den Protesten, vermissen aber die Freunde. Ihre Augen strahlen, wenn sie von der Schauspielerin Ramona Krönke erzählen, die mit ihnen ins Theater ging, oder von ihren Fußballfreunden Willi, Max und John. Sie zeigen Trikots, die sie beim FC Wandlitz trugen, Magomed hat sogar richtige Fußballschuhe bekommen. Es gehe ihnen zwar nicht schlecht in dem polnischen Heim, erzählen sie, auch in der Schule sei es okay, doch in Wandlitz waren sie angekommen. Und vor allem fehlt die Mutter. Die beiden Großen wenden sich verlegen ab, wenn sie das sagen. Magomed und Linda zeigen ihre Traurigkeit offener.

250 Menschen leben in dem Heim in Grupa. Der Ort gehört zur Gemeinde Dragacz in der Woiwodschaft Kujawien-Pommern. Früher war hier Militär stationiert, die Wohnungen im Flüchtlingsheim sind alle gleich: etwa 15 Quadratmeter große Zimmer mit Toilette und Dusche. Bis zu fünf Personen kommen darin unter, auf jeder Etage gibt es eine Gemeinschaftsküche, es wird aber auch Essen ausgegeben.

Die meisten Bewohner sind Tschetschenen, sagt der Heimleiter, darunter viele, die aus Deutschland zurückgeführt wurden. Fast alle haben zuerst in Polen Asyl beantragt, um in die EU einreisen zu dürfen. Weil Polen als „sicherer Drittstaat“ gilt, müssen sie zurück. „Wenn die Zahl der Tschetschenen in Deutschland steigt, merken wir das“, sagt der Heimleiter.

Derzeit steigt die Zahl drastisch. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in Nürnberg teilte auf Anfrage dieser Zeitung mit, dass von Januar bis Juli dieses Jahres 11 564 Asylanträge von Menschen aus der Russischen Föderation gestellt wurden, mehrheitlich von Tschetschenen. Im Vorjahreszeitraum waren es 1098. Flüchtlingsorganisationen sehen als Ursache die weiterhin schlechte Menschenrechtssituation im Nordkaukasus, aber auch wirtschaftliche Gründe. Zudem verbreiten Schlepper dort das Gerücht, Deutschland nehme eine gewisse Zahl an Menschen auf, jeder bekomme 4000 Euro und ein Stück Land.

Zelman A. hat davon erst in Europa gehört. Er habe Angst um seine Familie gehabt, weil er mehrfach zu Verhören geholt worden sei, sagt er. Auch hier in Polen fühle er sich unsicher, obwohl er sich nicht über das Heim beklagen will.

Vor einigen Jahren haben Menschenrechtsorganisationen die Situation tschetschenischer Flüchtlinge in Polen als katastrophal eingeschätzt. Seither hat sich viel geändert, sagt Anita Litkowska von der polnischen Menschenrechtsorganisation Pah. Zwar könne sie nicht für die vom polnischen Grenzschutz betriebenen geschlossenen Heime – ähnlich den deutschen Abschiebegefängnissen – reden, wohl aber für offene Heime wie in Grupa. Sie organisiert hier Kinderbetreuung, juristische und psychologische Beratung und andere Unterstützung.

Sie hat auch Zelman A. ihre Hilfe angeboten. „Vielleicht braucht er sie gar nicht mehr“, sagt Simone Tetzlaff vom brandenburgischen Flüchtlingsrat: „Wir haben erfahren, dass das Bundesamt für Migration entschieden hat, dass die Familie ihr Asylverfahren in Deutschland führen darf. Das heißt, der Vater und die Kinder können nach Deutschland zurück.“

Ramona Krönke wäre am liebsten sofort losgefahren, um die Familie zu holen, aber erst müssen alle Genehmigungen vorliegen – in Deutschland und in Polen. „Die Ausländerbehörde hat jetzt versprochen, sich darum zu kümmern, dass die Kinder und der Vater bald wieder in Wandlitz sind“, sagt die Schauspielerin.

Zelman A. würde sich dort sicherer fühlen. Obwohl ihm Pah-Mitarbeiterin Anita Litkowska die Angst nehmen konnte, dass die Familie von Grupa aus nach Russland abgeschoben werden könnte. „Ohne Mutter?“, sagt sie: „Nein, so etwas gibt es in Polen nicht.“ Sandra Dassler

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