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Diesen Blick liebte Konrad Seeger: die Baumwipfel, den freien Himmel über seinem Zelt. -

© Sandra Dassler

Nachruf auf Konrad Seeger, geboren 1943: Sie nannten ihn den Waldmenschen

"Ich halt' das nicht aus in einem geschlossenen Raum", sagte er. Und lebte viele Jahre im Zelt. Als er krank wurde und die Hilfe der Menschen suchte, sperrten sie ihn ein. Da ging Konrad Seeger zurück in seinen geliebten Berliner Grunewald.

Von Sandra Dassler

Er hat gewusst, dass es Räuber sind, die da draußen wohnen, in der Stadt. Aber vor drei Jahren, nach dem Winter waren seine Schmerzen zu stark geworden, er wurde immer schwächer und musste seinen Wald verlassen, die kleine Lichtung, die Kiefern, Birken, Fichten, die Vögel und die Mäuse. Und bei denen in der Stadt um Hilfe bitten. Dass es so schlimm werden würde, dass sie ihn anbrüllen, fesseln, einsperren würden, hat er nicht geahnt.

Anfangs ging es noch gut: „Herr Seeger war extrem scheu, aber wir konnten ihm helfen“, erinnert sich Jürgen Becker von der Berliner Stadtmission. Er hat sich um den Mann aus dem Wald gekümmert, er hat ihm nach dem Krankenhaus ein Zimmer im Übergangshaus für Obdachlose in der Lehrter Straße besorgt.

Er hat auch einen neuen Personalausweis beantragt und die Rentenansprüche eingereicht.

Er hat ihn gefragt – und nicht sehr viel erfahren. Nur dass er schon lange im Wald lebe. Der Sozialarbeiter hörte bald auf zu fragen, er wollte dem kranken und manchmal verwirrten Mann nicht zu nahetreten. Die Ärzte beobachteten eine beginnende Demenz.

Ein paar Jahre zuvor hatte ein Reporter Konrad Seeger auf seiner kleinen Lichtung im Grunewald aufgespürt. Der verkroch sich in sein Zelt, der Mann von der Zeitung setzte sich davor und stellte Fragen. Konrad Seeger erzählte ihm angeblich, dass er Ende der siebziger Jahre seine Frau verloren habe, seinen Job und seine Wohnung. Wahrscheinlich wollte er aber nur seine Ruhe und hat irgendwas erzählt. Denn längere Zeit in einer Firma hat er nie gearbeitet. Seit er 15 war, schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch, meist bei Bau- oder Gartenfirmen. Für die Kollegen war er „Konni, der Waldmensch“. Sie erzählen, dass er über eine Vermittlungsfirma tageweise kam. Und dass ihn die Unternehmen alle haben wollten, weil er freundlich war, zuverlässig und pünktlich. Und auch sauber: „Der Konni ist am Abend immer in ein Stadtbad gegangen, um sich zu waschen, dem hat man nie angemerkt, dass er im Wald lebte.“

Wenn sie ihn dann fragten, warum er nicht in eine Wohnung ziehe, er habe doch das Geld dafür, winkte er ab: „Ich halt’ das nicht aus in einem geschlossenen Raum. Ich brauch’ meinen Wald.“

Er muss seit Ewigkeiten im Grunewald gelebt haben. Als der Förster Andreas Constien Ende der achtziger Jahre das Revier übernahm, war er jedenfalls schon da. Sein Zelt stand immer an derselben Stelle. Er war oft mit einem Mofa unterwegs, in den letzten Jahren mit dem Fahrrad. Wer ihn auf der Koenigsallee traf, hätte ihn nie für einen Obdachlosen gehalten, sagt ein Anwohner: „Er wirkte gepflegt, ein hagerer, grauhaariger Mann, der nicht unfreundlich war. Aber man merkte, dass er in Ruhe gelassen werden wollte.“ Das habe auch jeder respektiert. „Es wäre sonst so gewesen, als wenn man eine Nachtigall stört. Kennen Sie das Buch ,Wer die Nachtigall stört’?“

Der Förster hat das ähnlich empfunden: „Dieser Mann hatte so eine stille Würde. Ich habe es nie fertiggebracht, ihn wegzujagen. Und er wäre sowieso wiedergekommen.“

Auch die berittenen Polizisten, die früher im Grunewald patrouillierten, wussten vom Waldmenschen. Sie sahen sein Zelt hinter den Bäumen und ließen ihn in Ruhe. Ein unausgesprochenes Übereinkommen: Der Mann tut keiner Seele etwas an, er knickt keinen Ast ab, er fühlt sich hier wohl, warum soll man das nicht akzeptieren?

Vor zehn Jahren ungefähr zog sich Konrad Seeger mehr und mehr zurück. Vielleicht begann da seine Krankheit, und er konnte wegen der Schmerzen nicht mehr arbeiten, vielleicht ließen seine geistigen Kräfte nach. In einer kalten Spätherbstnacht im Jahr 2004 geriet sein Zelt in Brand. Es war nicht das erste Mal, aber bisher hatte er das Feuer immer löschen können. Diesmal schaffte er es nicht, die Bäume überm Zelt fingen Feuer, er rannte um sein Leben.

Förster Constien wird das Bild nie vergessen: „Da waren viele Feuerwehr- und Polizeiautos und Herr Seeger lag splitterfasernackt auf dem Radweg neben der Straße. Niemand hat ihm eine Decke gegeben, er hat gezittert und sich geschämt.“

Als die Polizisten Konrad Seeger als vermeintlichen Brandstifter mitnehmen wollten, wehrte er sich. Und wurde wegen Beleidigung und Körperverletzung angeklagt. Kurze Zeit hielt man ihn fest, ob in einer psychiatrischen Einrichtung oder im Gefängnis, lässt sich nicht mehr feststellen. Dann kam er im Obdachlosenheim unter, in der Lietzenburger Straße. Dort setzten ihm der Lärm der Autos und der Gestank zu. Betrunkene Mitbewohner bestahlen ihn. So hat er es später dem Förster erzählt. Dass er wegen Beamtenbeleidigung und -verletzung zu hundert Tagessätzen à zehn Euro verurteilt worden war, erzählte er nicht. Auch nicht, dass er getürmt war, bevor das Urteil vollstreckt wurde, zurückgekehrt in seinen Wald, an dieselbe, alte Stelle.

„Es muss sehr gute Erde hier sein“, sagt der Förster. Die Birken, Kiefern und Fichten wachsen viel schneller als anderswo. Und höher, fast 30 Meter. Bis vor kurzem standen die beiden Zelte noch, das eine, in dem Konrad Seeger geschlafen hatte, das andere für die Vorräte. Ein MP3-Abspielgerät lag davor, ein Schuh, ein sorgfältig geschlossener Müllbeutel.

Jetzt sind die Zelte weg, die Löcher im Waldboden ringsum sind noch da. In einigen hatte Konrad Seeger Kleidungsstücke vergraben, meist in Plastikeimern, um sie vor den Mäusen zu schützen. In anderen lagerten Zeitungen, er las gern.

Für die Vögel hatte er ein richtiges Haus gebaut, eins mit Wänden, Fenstern und einer kleinen Treppe, die zur Tür führt. Es hing an einem Ast direkt vor seinem Zelteingang.

Jetzt im Frühling, wenn die Sonnenstrahlen durch die Baumwipfel brechen und die Vögel um die Wette singen, ahnt man etwas vom Zauber dieser Stelle. Wenn wieder alles grün ist, muss es hier wunderschön sein.

Aber wie hält man hier eine Winternacht bei minus 20 Grad aus? „Herr Seeger hatte sehr gute Schlafsäcke und kaufte sich mindestens alle zwei Jahre ein neues Zelt", sagt der Förster.

Vor drei Jahren kehrte Konrad Seeger noch einmal aus dem Wald in die Stadt zurück – trotz der traumatischen Erlebnisse nach dem Brand. Er brauchte einfach ärztliche Hilfe. Wider Erwarten begann er sich bei der Stadtmission einzuleben, er schien sich sogar an das Leben zwischen vier Wänden zu gewöhnen. Er vermisste seine Bäume, sagt sein Betreuer Jürgen Becker, aber dann habe er immer gesagt: „Es geht ja nicht anders.“

Jetzt hatte er eine feste Adresse, gemeldet bei der Polizei. Irgendwann registrierte ein Computer die Übereinstimmung: Für diesen Mann gab es noch einen Haftbefehl aus dem Jahr 2005. Er schuldete dem Staat 1000 Euro Strafgeld. Gut drei Monate nach seinem Einzug in die Stadtmission standen Polizisten vor seiner Tür. Warum sie nicht vorher beim Betreuer der Stadtmission nachgefragt hatten, warum sie den verwirrten Mann festnahmen, obwohl er das Geld sofort von seiner Rente hätte zahlen können, darüber will die Polizei nichts sagen. Mitbewohner erzählen, dass Konrad Seeger laut geschluchzt habe, als sie ihn in Handschellen abführten.

Jürgen Becker, der Betreuer, erhielt tagelang keine Auskunft. Nach einer Woche erfuhr er, dass sein Schützling im Gefängnis Plötzensee saß. Natürlich im verschärften Arrest, weil er sich gewehrt hatte, als man ihn erkennungsdienstlich behandelte und sämtliche Körperöffnungen untersuchte.

Becker fuhr nach Plötzensee, bezahlte von Seegers Rente die Strafe und bekam zu hören: „Da sind wir aber froh, dass wir den störrischen Kerl los sind.“ Konrad Seeger stand unter Schock, als Becker versuchte, ihm die Angelegenheit zu erklären, verstand er gar nichts.

Er taumelte aus dem Gefängnis auf die Straße und umarmte weinend den Sozialarbeiter. „Sie sind für mich wie Jesus, mein Retter“, war sein erster Satz. Und der zweite: „Ich geh’ wieder in den Wald.“

Wer hätte ihn davon abbringen können? Sie vereinbarten noch regelmäßige Arztbesuche und dass sich Seeger einmal im Monat melden würde, wenn er seine Rente abholte. Bis zum letzten Juli hielt er sich an die Abmachung. Dann kam er nicht mehr, auch nicht zur Rentenstelle.

Er ist an Krebs gestorben, wann genau, lässt sich nicht feststellen. Vielleicht in einer jener Eisnächte Anfang Februar. Vor drei Wochen hat der Förster ihn gefunden. Er lag in seinem Zelt, das Gesicht dem freien Himmel zugewandt.

Dass er in dem Bezirk bestattet wird, in dessen Wald er gelebt hat, entspricht bürokratischer Gepflogenheit: Sozialbegräbnisse von Wohnungslosen werden nach Geburtsdatum auf die zwölf Berliner Bezirke verteilt. Sein Geburtstag war der 1. Juni; für den Juni ist Steglitz-Zehlendorf zuständig. 

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