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Nach Eklat im Landtag: "Goebbels für Arme": Kalbitz-Vergleich kommt vor Gericht

Verfassungsrichter befassen sich mit Kalbitz-Eklat im Landtag. Wann ein Ergebnis zu erwarten ist, kann allerdings noch niemand sagen. Die Gericht verzeichnen einen enormen Verfahrensanstieg.

Potsdam - Es war ein Eklat am 16. Dezember 2016, wie ihn der Brandenburger Landtag selten erlebt hat. Ein Abgeordneter wurde von der laufenden Plenarsitzung ausgeschlossen. Eine harte Maßnahme, die erst zum zweiten Mal seit 1990 verhängt wurde. Im damals noch jungen Landtag traf es einen Abgeordneten der rechtsextremen DVU wegen eines Nazi-Vergleichs. Vor 14 Monaten musste der AfD-Abgeordnete Andreas Kalbitz, mittlerweile Fraktionschef, den Saal verlassen. Am Rande der Haushaltsdebatte hatte er die Rede des CDU-Abgeordneten Steeven Bretz als „Goebbels für Arme“ bezeichnet. Landtagspräsidentin Britta Stark (SPD) folgte schließlich dem Antrag der CDU-Fraktion und schloss Kalbitz wegen „gröblicher Verletzung der parlamentarischen Ordnung“ von der Plenardebatte aus. Nun befasst sich das Brandenburger Verfassungsgericht mit dem Fall, der Auswirkungen auf die weitere Arbeit des Parlaments haben wird.

Kalbitz hatte die Brandenburger Verfasungsrichter vergangenen Juni angerufen, um Starks Vorgehen zu prüfen. Vermutlich im ersten Halbjahr 2018 will das Gericht nun entscheiden, ob der Ausschluss rechtens war, wie Gerichtspräsident Jes Möller am Donnerstag bekannt gab. Rückwirkende Konsequenzen kann der Fall nicht haben, Stark droht keine Strafe, aber das Urteil ist Richtschnur für die weitere Sitzungsleitung im Landtag: Welche Reaktion ist angemessen, wenn es dort erneut zu einer verbalen Entgleisung kommen sollte? Organstreitverfahren, also Unstimmigkeiten, die den Landtag oder die Landesregierung betreffen, machen nur einen Bruchteil der Richterarbeit aus. Im Vorjahr ging mit dem Kalbitz-Eklat nur ein solches Verfahren bei den nebenamtlichen Richtern ein. 

Mehr Verfahren gab es nur nach der Gemeindegebietsreform - aber das war eine besondere Situation

Hinzu kamen fünf Kommunalverfassungsbeschwerden. Hauptstreitpunkt hier: Geld. Mal geht es um die Bauordnung, die Baugebührenordnung oder das Gemeindefinanzierungsgesetz, das Städte und Gemeinde auf die Barrikaden bringt. Das Gros der Verfahren – und das ist eine Brandenburger Besonderheit – betrifft aber Beschwerden einzelner Bürger.

In Nordrhein-Westfalen beispielsweise sind Individualbeschwerden gar nicht zugelassen. Der Anstieg der Eingangszahlen insgesamt durch die Beschwerdemöglichkeit in Brandenburg ist enorm. Landeten 2016 noch 82 Fälle auf dem Verfassungsrichtertisch, waren es im Vorjahr 2010 – ein Anstieg um 250 Prozent und ein Rekord. Nur im Jahr der Gemeindegebietsreform 2003 habe es mehr Eingänge gegeben, nämlich 531. Aber das, erklärt Möller, sei eine Sondersituation gewesen.

„In Brandenburg ist eine ganze Gerichtsbarkeit auf Verschleiß gefahren worden“

Der Bestand unerledigter Fälle ist im Vorjahr laut Möller um das Dreieinhalbfache gestiegen. Harrten 2016 nur 45 Fälle aus früheren Jahren ihrer Bearbeitung, waren es im Vorjahr 157. Mögliche Ursache für die Zunahme: Der Bundesgesetzgeber hat den Rechtsweg bei einigen Verfahren eingeschränkt, sodass die erste oft auch die letzte Instanz ist. Wem kein anderer Weg mehr bleibt, der versucht es bei den Potsdamer Verfassungsrichtern. Den Hauptgrund für die enorme Belastung des dritten Verfassungsorgans des Landes sieht Möller, der hauptamtlich Direktor des Sozialgerichts Neuruppin ist, aber in der Hartz IV-Gesetzgebung und den damit „chronisch überlasteten“ Sozialgerichten im Land. Wie berichtet, hatte die neue Präsidentin des Landessozialgerichts, Sabine Schudoma, die Situation angeprangert und dringend mehr Personal gefordert.

„Da ist in Brandenburg eine ganze Gerichtsbarkeit seit über einem Jahr auf Verschleiß gefahren worden“, unterstützt Möller ihre Kritik. Das führe zwangsläufig zu Fehlern bei der Rechtsprechung, die dann die Potsdamer Verfassungsrichter beschäftigen. Zwei Drittel der Individualbeschwerden, die beim Verfassungsgericht landen, betreffen Streitigkeit rund um das Arbeitslosengeld II, die bei den Sozialgerichten nicht zur Zufriedenheit der Betroffenen geklärt wurden. Das Verfassungsgericht sei ein „Seismograph der Situation in der Justiz insgesamt“, so Möller. Sein Urteil: „Die Justiz in Brandenburg ist an ihren Grenzen angelangt.“ Die Justizgewährleistungspflicht, die in der Verfassung steht, werde „auf breiter Front missachtet“, die friedensstiftende Funktion des Rechts sei beeinträchtigt. Bürger, die sich an das Verfassungsgericht wenden, berufen sich dabei meist auf die in der Landesverfassung verbürgten Justizgrundrechte wie rechtliches Gehör, willkürfreie Entscheidungen und das Recht auf ein faires, zügiges Verfahren.

Lange Verfahrensdauer und Ablenkung vom Wesentlichen

Nun, fürchtet Möller, werde auch beim Verfassungsgericht die Verfahrensdauer ansteigen. Derzeit müssen Bürger auf einen Entscheid rund sechs Monate warten. Ein Organstreitverfahren wie im Fall Kalbitz ist im Schnitt nach 14 Monaten entscheidungsreif. Bei den komplizierten Kommunalverfassungsbeschwerden gehen im Schnitt 448 Tage, also etwas 15 Monate ins Land. Noch.

Um das Funktionieren des Verfassungsgerichts zu sichern, hat Möller eine Gesetzesnovelle angeregt. Die Verfassungsrichter müssten unzulässige Beschwerden leichter abweisen dürfen. Derzeit müssen auch Eingaben beschieden werden, die bereits auf den ersten Blick die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllen. Das bindet Zeit für die eigentlichen Fälle. Dass sich der Gang zum Verfassungsgericht auch für den Einzelnen lohnen kann und die vorherige Rechtsprechung nicht selten fehlerhaft ist, zeigt die Statistik: Immerhin zehn Prozent der Betroffenen sind vor den neun Verfassungsrichtern des Landes erfolgreich.

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