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Brandenburg: Mehr als ein Häufchen Asche in Auschwitz

Jahrzehntelang suchte die Holocaust-Überlebende Inge Auerbacher ein Bild von ihrer besten Freundin aus Theresienstadt, der Berlinerin Ruth Nelly Abraham. Nun fand sie es

Einen törichten Moment lang war Inge Auerbacher damals neidisch. Neidisch auf ihre beste Freundin Ruth aus Berlin, die Theresienstadt gen Osten verlassen dürfte. Neidisch, weil sie, Inge, in „diesem Drecksloch“ zurückbleiben musste.

Im Konzentrationslager waren die beiden unzertrennlich gewesen. Sie schliefen im selben Stockbett und spielten mit den gleichen Puppen. Suchten im Dreckhaufen nach genießbaren Essensresten und zählten die Knochen, die aus ihren mageren Körpern hervorstachen. Doch durch einen roten Kreis um den Namen von Ruths Vater – dessen Nachname Abraham ebenso wie Auerbacher mit A begann – war Ruths Familie für die Fahrt gen Osten ausgewählt worden, Inges aber nicht.

„Wir waren wie Schwestern, unglaubliche Freundinnen – ich kann immer noch nicht begreifen, warum nur ich überlebt habe“, erzählt Inge Auerbacher heute, ihre Stimme klingt am Telefon leicht brüchig. Ruths Fahrt begann am 9. Oktober 1944 und endete in Auschwitz. Zwei Wochen vor ihrem zehnten Geburtstag wurde sie vergast. Inge Auerbacher ist inzwischen 80 Jahre alt und lebt in New York. Sie hat nach ihrer Emigration in die USA Chemie studiert und mehrere Bücher geschrieben. Doch die Gedanken an ihre beste Freundin in Theresienstadt lassen ihr keine Ruhe. Und so ist Ruth auch der Grund für dieses Gespräch.

In den vergangenen 30 Jahren wurde Auerbachers Leben begleitet von der Suche nach einem Bild von Ruth. Auerbacher verzehrte sich nach einem Beweis dafür, dass es das Mädchen aus Berlin wirklich gegeben hatte. Ein Zeichen, dass sie mehr war als nur ein Name auf dem Stolperstein, der vor ihrem Elternhaus in der Wallstraße in Berlin-Mitte verlegt wurde. Wann immer Auerbacher auf Konferenzen sprach, erwähnte sie Ruth. Ruth, die trotz ihrer jüdischen Mutter christlich erzogen war und mit ihrem Vater im Lager immer zu den christlichen Messen ging. Ruth, die Buntstifte nach Theresienstadt schmuggelte, um malen zu können.

Auerbacher widmete ihr das Buch „Ich bin ein Stern“, das sie über ihre Zeit in Theresienstadt schrieb. Sie postete in Facebook-Gruppen und fragte in Archiven nach. „Es musste doch ein Bild geben. Sie musste doch ein Gesicht haben“, sagt Auerbacher, in ihrer Stimme liegt jetzt Dringlichkeit.

Anfang August machte sie einen, wie sie sagt, letzten Versuch. Über Facebook schrieb Auerbacher an Markus Hesselmann, Chefredakteur Online beim Tagesspiegel, dem großen Berliner Schwesterblatt der PNN. Sie bat ihn, ob er ihren Aufruf veröffentlichen könnte. Was folgte, scheint Auerbacher noch immer unglaublich, sie spricht sogar von einem Wunder.

Unter der Überschrift „Wer hat ein Bild von Ruth Nelly Abraham?“ wird der Aufruf am 3. August auf Tagesspiegel.de veröffentlicht und über Social-Media-Seiten des Tagesspiegels verbreitet sowie in Stolperstein-Foren auf Facebook gepostet. Dort findet ihn auch Birgit Sosson. Die Sozialarbeiterin ist in ihrer Freizeit Genealogin, Ahnenforscherin also. Die Rekonstruktion von Stammbäumen weckt in ihr detektivistischen Eifer. Als sie die Schilderungen von Auerbacher liest, ist sie berührt und neugierig zugleich. Sie beschließt, einen Stammbaum der Familie Abraham anzulegen.

Sosson ruft in einem Standesamt an, studiert historische Adressbücher, liest in alten Zeitungen und in Verlustlisten aus dem Ersten Weltkrieg. Obwohl sie Auerbacher gar nicht kennt, widmet sie ihr ihre Freizeit. Stundenlang verschwindet die 49-Jährige nach Feierabend hinter dem Bildschirm ihres Computers, ihr Mann bringt ihr Brote, damit sie das Essen nicht vergisst. Sie sagt: „Jeder weiß, wer Anne Frank war. Aber in der Masse von ermordeten Kindern kennt niemand Ruth Nelly.“

Bei ihren Recherchen findet Sosson heraus, dass Ruths Vater, Richard Abraham, eine jüngere Schwester besaß, Edith, die überlebt hat. Und Sosson konnte auch den Namen von Edith Abrahams Enkel ermitteln: Ron Brinitzer. Der Name ist selten – ein paar Google-Suchen reichten, um seine E-Mail-Adresse zu finden. Als sie ihn anschreibt und wissen will, ob er mit der Abraham-Familie verwandt ist, schreibt er zurück: „Volltreffer!“

Inge Auerbacher weiß zu dieser Zeit zwar, dass Sosson den Stammbaum rekonstruiert. Aber dass sie einen Nachfahren der Abrahams ausfindig gemacht hat, behält Sosson zunächst für sich. Erst will sie abwarten, ob Brinitzer ein Foto finden kann.

Als der 46-Jährige die Mail in seinem Arbeitsaccount entdeckt, ist er überrascht. In der Vergangenheit hat er sich wenig mit den Abrahams in seiner Familie beschäftigt. Die Chancen, ein Bild zu finden, hält er für gering. Sein Vater ist in Israel aufgewachsen, seine Familie war 1933 ausgewandert und hatte Ruth niemals kennengelernt. Denn Ruths Vater Richard Abraham, der Bruder von Brinitzers Großmutter Edith, wollte Deutschland nicht verlassen. Der hochdekorierte Veteran hatte im Ersten Weltkrieg einen Rückenschuss erlitten und fühlte sich nicht fit dafür, das Leben eines Pioniers in Israel zu führen. „Er hat sich nicht getraut – wegen einer Verletzung, die er sich im Kampf für Deutschland zugezogen hatte“, betont Brinitzer.

Als Brinitzer seinen Vater nach einem Bild von Ruth fragt, kann der nicht helfen. Doch Ron Brinitzer hat noch eine 90-jährige Tante. Sie kann sich an den Namen Ruth erinnern – und fördert nach einigem Suchen ein Bild zutage. Auf der schon etwas beschädigten Aufnahme ist Ruth etwa drei Jahre alt, ihre Eltern müssen es an die nun entfernt lebenden Verwandten geschickt haben.

Brinitzer nimmt Kontakt zu Inge Auerbacher auf, er schickt ihr das Bild. Als die E-Mail mit dem Anhang bei Auerbacher ankommt, hält sie einen Moment inne. Traut sich nicht, ihn zu öffnen, so lange sie auch auf dieses Bild gewartet hat. Und als Auerbacher es dann doch tut, weint sie.

Für die 80-Jährige, die in New York ohne jede Verwandten lebt, ist das Mädchen wieder Wirklichkeit geworden. „Ich wollte nicht, dass sie nur ein Häufchen Asche in Auschwitz ist“, sagt Inge Auerbacher heute. „Ein Mensch darf nicht einfach so verschwinden.“

Und das Bild ist heute nicht die einzige Spur, die von Ruth geblieben ist. Im Konzentrationslager hat sie gemeinsam mit ihrem Vater ein kleines, etwa zehnseitiges Heftchen gestaltet. Der Einband ist aus Pappe, verziert mit einem Herz. Darin stehen Gedichte, sie drehen sich um Essen, illustriert mit Zeichnungen – einige eindeutig von Ruth. Sie hat das Heftchen zum Geburtstag für einen kleinen Jungen gemacht, auch daran kann sich Auerbacher erinnern. Der Vater des Jungen war wie Ruths und Inge Auerbachers Vater Veteran aus dem Ersten Weltkrieg. Sie lebten in derselben Baracke.

Das Heftchen gibt es heute noch. Es ist im Besitz von Peter Waldmann, dem Sohn des kleinen Jungen von damals, der die Zeit im Konzentrationslager ebenfalls überlebte. „Das Buch ist ein Überbleibsel von Ruths Existenz. Ein Zeichen dafür, dass sie nicht spurlos vergangen ist“, sagt Waldmann, der lange Zeit Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Mainz war. Er kam zufällig mit Auerbacher in Kontakt, nachdem sie in Deutschland einen Vortrag hielt. Auch Waldmann hat viel über das Mädchen nachgedacht, das sich nicht als Jüdin fühlte und trotzdem zu einer erklärt wurde. „Das zeigt die Gefährlichkeit von Rassisten. Ihnen entkommt man durch nichts.“ 

Inge Auerbacher sagt, die spürt trotz allem keinen Hass. Aber sie fragt sich oft, was aus Ruth geworden wäre. Vielleicht eine große Künstlerin? Auerbacher erinnert sich noch daran, wie Ruths Vater zum Abschied sagte: „Wir kommen jetzt und ihr kommt nach.“ Und Ruth gab ihr das Kleid und den Hut ihrer Puppe zur Verwahrung. „Das hebst du auf, bis wir uns wieder sehen.“ Es war ein Wiedersehen, das niemals kam. Aber immerhin hat Auerbacher nun wieder Ruths Gesicht vor Augen.

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