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Masernausbruch in Berlin: Experten sprechen bereits von einer Epidemie

Die Zahl der Masernkranken steigt weiter in Berlin. 16- bis 45-Jährige sind besonders gefährdet. Gerade in bildungsnäheren Gegenden wie Steglitz-Zehlendorf oder Reinickendorf ist das Risiko hoch.

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Berlin/Potsdam - Drei weitere Menschen in Berlin sind an Masern erkrankt. Damit ist die Zahl der Fälle seit Jahresbeginn auf 115 gestiegen. „Wir haben hier bereits eine epidemische Situation“, sagte die Infektionsschutzbeauftragte des Senats, Marlen Suckau am Montag dem Tagesspiegel. Sie geht davon aus, dass die Zahl der Erkrankungen weiter steigt. „Wir wissen, dass in der besonders gefährdeten Gruppe der 16- bis 45-Jährigen etwa 20 Prozent keinen Impfschutz haben und sich jederzeit mit der hoch ansteckenden Krankheit infizieren können“, sagt sie. Diese Erkenntnis hätten die Berliner Gesundheitsbehörden, weil sie vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der Schweinegrippe Blutproben auch auf Antikörper gegen Masern testen ließen – jeder fünfte hatte sie nicht.

Die Lage wird auch vom Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin sehr ernst genommen. Es handele sich bereits um einen „Masernausbruch“ oder eine „lokal begrenzten Epidemie“, sagte RKI-Impfexperte Ole Wichmann. Das Robert-Koch-Institut ist die zentrale Einrichtung der Bundesregierung „zur Krankheitsüberwachung- und Prävention“. Auch Wichmann hält die Altersgruppe zwischen 16 und 45 Jahren für „besonders gefährdet“. Mehr als die Hälfte der seit Januar Infizierten seien in dem entsprechenden Alter. Denn wer zwischen den frühen 70er Jahren und den späten 90ern zur Welt kam, hat oft nur die erste Immunisierung im Impfpass stehen und ist folglich „weniger effektiv geschützt“, sagt der RKI-Experte.

Hauptgrund dafür sei, dass in dieser Zeitspanne weniger auf die zweite, unbedingt erforderliche Nachimpfung geachtet wurde. Diese führte man damals viel später durch, in der Regel bei Fünfjährigen – mit der Folge, dass viele Eltern den zweiten Durchgang schlicht vergaßen. Seit 2000 wird deshalb in schnellerer Abfolge geimpft, die zweite Immunisierung steht am Ende des zweiten Lebensjahres an (siehe nebenstehender Kasten). Und die meisten Kinderärzte schicken den Eltern heute Erinnerungen.

Folglich waren 2010 genau 91,5 Prozent aller Schulanfänger in Berlin doppelt geimpft und fünf Prozent wenigsten einmal immunisiert. Jüngere Zahlen liegen laut RKI noch nicht vor. Dieser Prozentsatz ist aus Expertensicht schon „recht gut“, reicht aber „noch nicht ganz aus.“ Das Idealziel sind mindestens 95 Prozent. Eine Infektionskette wie derzeit in Berlin sei dann unmöglich. Damit sinke auch das Ansteckungsrisiko für Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht immunisiert werden können. Der harte Kern der Impfgegner gefährdet allerdings diesen Schutzschirm.

Wie berichtet, ist die Skepsis gegenüber der Masernimpfung vor allem bei bildungsnahen deutschen Eltern verbreitet – so in Kreisen der anthroposophischen Waldorfpädagogik. So heißt es in einem Merkblatt der Gesellschaft anthroposophischer Ärzte, die Frage nach dem „möglichen Sinn einer Krankheit“ werde meist nicht gestellt. Es gebe durchaus Gesichtspunkte „zur Sinnhaftigkeit einer Massenerkrankung“. So würden aufmerksame Eltern „gerade bei Masern oft eine tiefgreifende Reifung ihres Kindes“ erleben. Rund 40 Prozent der Kinder wären danach seltener krank als zuvor. Hochfiebrige Erkrankungen förderten „die Reifung des Immunsystems“ auch im Hinblick auf Allergien. Das Kind „individualisiere“ durch Masern seinen Organismus, heißt es weiter.

Für Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) sind wegen solcher Thesen gerade die bildungsnäheren Gegenden wie Steglitz-Zehlendorf oder Reinickendorf hinsichtlich des Infektionsschutzes „Problembezirke". Dort ist die Masernimpfquote niedriger als in ärmeren Bezirken Berlins. Im Rahmen einer Werbekampagne für konsequenten Impfschutz, die in den kommenden Wochen beginnen soll, will Czaja deshalb im wohlhabenderen Westen Berlins Schwerpunkte setzen.

„Wir können Menschen nicht zwingen, sich oder ihre Kinder impfen zu lassen“, sagt Infektionsschutzbeauftragte Marlen Suckau: „Aber mehr als die Hälfte der erkrankten Erwachsenen musste wegen der Schwere des Verlaufs in ein Krankenhaus, meist war es eine Lungenentzündung.“ Statistisch gesehen entwickle sich bei einem von 1000 Erkrankten eine noch gefährlichere Gehirnentzündung und einer von 100 000 Erkrankten sterbe an fortschreitender Hirnverkalkung.

Suckau hält einen Impfzwang in Deutschland nicht für durchsetzbar. In Amerika hingegen darf kein Kind eine Schule besuchen, das nicht nachgewiesenermaßen gegen Masern geimpft ist. Das gilt auch für deutsche Austauschschüler.

Zwei Punkte bereiten den Berliner Gesundheitspolitikern zusätzliche Sorgen. Zum einen habe man es im Gegensatz zu vorherigen Masernausbrüchen, die meist lokal begrenzt blieben, jetzt mit mehr als einem Dutzend „Nester“ mit jeweils zwei bis sechs Erkrankten zu tun – über fast alle Bezirke verteilt. Wo die Epidemie ihren Anfang nahm, ist unklar, auch wenn sich mindestens acht Personen auf der Messe „Fruit Logistica“ im Februar angesteckt hätten. „Allerdings nicht durch Früchte, sondern durch Menschen“, sagt Suckau.

Zum anderen sind auch mehrere Personen erkrankt, die vor 1970 geboren wurden. Bislang war man davon ausgegangen, dass sie noch in einer Zeit ohne Masernimpfstoff aufwuchsen, weshalb sie fast alle in ihrer Kindheit mit den hochansteckenden Viren infiziert wurden. Ihr Körper habe dadurch Antikörper gebildet, die sie lebenslang schützen, glaubte man. „Wir werden das weiter beobachten“, sagt Marlen Suckau, „gegebenenfalls muss die Ständige Impfkommission über eine Erweiterung der Impfempfehlung nachdenken.

In Brandenburg sind, wie berichtet, seit Jahresbeginn erheblich weniger Menschen an Masern als in Berlin erkrankt. Bis zum späten Montagnachmittag lagen dem Gesundheitsministerium in Potsdam landesweit 14 gemeldete Fälle vor, betroffen sind hier vor allem Kinder.

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