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Auf der Ehrencouch. Als erster Brandenburger Ministerpräsident wurde Manfred Stolpe zur Identifikationsfigur.

© picture alliance / dpa

Manfred Stolpe wird 80: Das Richtige im Falschen

In der DDR war er ein Mann der Kirche und ein deutsch-deutscher Geheimdiplomat. Als erster Ministerpräsident prägte Manfred Stolpe den Aufbau Brandenburgs. Lange hatte er mit Stasi-Vorwürfen zu kämpfen. Und mit dem Krebs. Am Montag wurde der Potsdamer 80 Jahre alt.

Potsdam - Am wohlsten hat er sich immer gefühlt, wenn er alles unter Kontrolle hatte. Und jetzt, in den letzten Monaten, drängt sich der Eindruck auf, dass Manfred Stolpe auch die Kontrolle darüber behalten möchte, welches Bild von ihm über seine eigene Lebenszeit hinaus in der Öffentlichkeit präsent bleiben soll. In einem Gespräch mit den beiden Journalisten Christoph Singelnstein und Jost-Arend Bösenberg, das der RBB am Mittwochabend sendete und das auch als Buch erscheint („Von Pommern nach Potsdam“), ist er sehr nachdenklich auf diese Charaktereigenschaft eingegangen. Er habe, sagt er da, in manchen Dingen, gerade im Kontakt mit staatlichen Stellen wohl, geglaubt, besser Bescheid zu wissen als die anderen – „die Quittung für diese Hybris bekam ich, als die Versuche gemacht wurden, mich zum Stasi-Mitarbeiter abzustempeln“. Als uneinsichtig, das wird da klar, möchte er nicht gelten. Anlass des Gesprächs: Stolpes bevorstehender Geburtstag. Am Pfingstmontag wird er 80 Jahre alt.

Die Beharrlichkeit freilich, dieses immer nach einem Weg suchen, das gehörte schon zu den Wesenszügen des Kirchenpolitikers Manfred Stolpe in der DDR-Zeit, und das ist auch Teil eines Mythos. Wann dieser Stolpe-Mythos begann, die Geschichte des Mannes, der eins war mit seinem Land Brandenburg, kann man ziemlich genau festmachen. Das waren die Landtagswahlen 1994. Jede Woche war der „Spiegel“ mit neuen Stasi-Vorwürfen gegen Stolpe gekommen, hatte begeisterte Nachschreiber gefunden – und dann gaben die Brandenburger Wähler Stolpes SPD 54 Prozent. Sie wollten sich ihren Landesvater nicht abschießen lassen, lautete damals die Deutung. Dieser Stolpe hatte seinen Brandenburgern auf den Weg gegeben: „Leute, ihr müsst nicht so tun, als ob ihr alle erst am 3. Oktober 1990 geboren wurdet. Ihr könnt zu dem stehen, was ihr in der DDR unter schwierigen Bedingungen geleistet habt, wie ihr gelebt, gearbeitet, Familien gegründet habt.“

Jeden Brandenburger mindestens drei Mal getroffen

95 Prozent der Märker kannten ihn, las man in Meinungsumfragen. In Wirklichkeit seien es aber 285 Prozent gewesen, hieß es in seiner Umgebung, weil er jeden Brandenburger bis dahin mindestens drei Mal getroffen hatte. Sein Brandenburg hat man die kleine DDR deswegen genannt, denn nirgendwo sonst in dem untergegangenen Oststaat, in keinem der jungen Bundesländer, gab es eine solche im Sozialismus groß gewordene Identifikationsfigur, die das Gefühl des „es war nicht alles schlecht“ verkörperte wie er.

Geboren 1936 in Stettin-Höhendorf, studiert er Rechtswissenschaften, macht ab 1959 ein Referendariat bei der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, wird 1964 Konsistorialrat im Hauptamt der Kirche und schließlich zum Oberkonsistorialrat im Evangelischen Kirchenbund der DDR, an dessen Bildung er entscheidend mitgewirkt hat, berufen.

Stolpe, der Taktiker im Umgang mit den Mächtigen, gilt als die treibende und gestaltende Kraft der evangelischen Kirche der DDR. Er ist der Mann, der nach der organisatorischen Trennung die Kontakte zur EKD der Bundesrepublik nicht abreißen lässt. Kirche im Sozialismus war für ihn keine Unterwerfungsformulierung, sondern Ausdruck einer Hoffnung auf Überleben. Dass der Sozialismus einmal überwunden, dass Deutschland eines näheren Tages wieder vereinigt sein könnte, lag wohl außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Damit dachte er vermutlich ähnlich wie rund 70 Millionen Deutsche in Ost und West, auch wenn heute etwa genauso viele nie an der Wiedervereinigung gezweifelt haben wollen. Aber dass eine Einheit der Nation und des Glaubens fortbestand, das glaubte er wohl schon.

"Stolpe hat zu DDR-Zeiten die Drecksarbeit gemacht"

Seine Begegnungen mit Richard von Weizsäcker, Jürgen Schmude, Johannes Rau, Helmut Schmidt stehen symbolisch dafür. Der nordrhein-westfälische Ex-Innenminister Herbert Schnoor fasst diese Zeit später einmal so zusammen: „Stolpe hat zu DDR-Zeiten die Drecksarbeit gemacht und alle Kirchenleute waren froh, dass er ihnen das abgenommen hat.“

Sicher ist, dass Stolpe einem Bundesland eigene Struktur und inneren Zusammenhalt gegeben hat, das als einer der Verlierer aus dem Vereinigungsprozess hervorkam. Ein die Gesellschaft tragendes, breites Bürgertum wie etwa in Sachsen gab es in der Mark nicht mehr, und wo es bestanden hatte, bis zum Krieg, war es weitgehend in den Westen gegangen. Die wenigen Industrien brachen zusammen, mit der sogenannten dezentralen Konzentration, dem Fördern von Strukturen fern ab der Metropole Berlin, versuchten seine Regierungen, das Leben in den Randregionen zu erhalten. Die Universitäten in Cottbus und Frankfurt (Oder) sind die Erfolgszeugnisse dieser Politik. Investitionsruinen wie der Lausitzring, die Luftschiffhalle und die Chipfabrik die negativen Belege. Wo es wirklich boomte, das war der Speckgürtel um Berlin, aber die Fusion mit der noch aus langer DDR-Erinnerung verhassten Hauptstadt ließen seine Brandenburger platzen. Das geht ihm noch heute nach, wie er gerade wieder sagte.

Als das Glück und der Instinkt ihn verließen

Als er im Juni 2002 als Ministerpräsident zurücktritt und an Matthias Platzeck übergibt, scheint ihn das Glück verlassen zu haben, genauso wie sein Instinkt für das, was die Leute von ihm erwarten. Sein stilles Führen ohne Kommandoton („Kann sich da bitte mal jemand kümmern?“ ist so ein Satz) scheint sich überlebt zu haben. Schon 1999 hatte die SPD bei der Landtagswahl 15 Prozent der Stimmen verloren, da konnte das niemand mehr schönreden nach der Devise „trotz Stolpe“ – nein, das war schon auch „wegen Stolpe“. Gerhard Schröder, der Kanzler, hatte mit seinem ruppigen, geradezu bösartigen Umgang mit dem treuen Parteisoldaten Stolpe dazu beigetragen, dass der Respekt vor dem schwand.

Umso überraschender dann seine zweite Karriere als Verkehrsminister im Kabinett Schröder, weil Tiefensee abgesagt hatte und Stolpe sich mal wieder in die Pflicht nehmen ließ. In diese Phase fiel das Mautdesaster, das kollektive Versagen der deutschen Industrie, das sich der daran völlig unschuldige Stolpe politisch zurechnen lassen musste. Das war die Zeit der ersten Krebserkrankung 2004, deren Behandlung er, als die Geschwulst im Darm Monate zuvor noch als gutartig erkannt worden war, verschleppte, mit schlimmen Folgen, wie man heute weiß. 2008 wurde er dann wegen der Lebermetastasen operiert, 2011 wegen einer Absiedlung in der Lunge. Mit seiner Frau, die 2008 an Brustkrebs erkrankte, stellte er sich und beider Krankheiten der Öffentlichkeit. Ingrid und Manfred Stolpe zeigten, wie man mit Krebs leben kann, im Glauben an eine Wendung zum Guten, und im Glauben überhaupt.

Stolpe wollte diese Kirche retten

Wer glaubt, Manfred Stolpe sei Zeit seines Lebens mit Kritik umgegangen wie ein Hund, der sich das vom Regen nass gewordene Fell schüttelt und dann unbeeindruckt weiterläuft, irrt. Wer ihn länger kannte, hat genau gesehen, wann er verletzt war durch Anwürfe, vor allem und immer dann, wenn an seiner persönlichen Integrität gezweifelt wurde. Und eine Zeit lang, in den frühen neunziger Jahren, war es in manchen Medien und bei manchen Politikern so etwas wie ein Volkssport geworden, an Stolpes Ehre zu zweifeln, ihn in Frage zu stellen. Er hat nie gewollt, dass sein Gegenüber spürt, wie es ihm geht. Die Einzige, die wohl bis heute weiß, wie es in ihm aussah, wird seine Frau sein, und auch der hat er vieles nicht erzählt, wie er einmal freimütig einräumte. Das gehörte zu seiner ganz persönlichen konspirativen Haltung, die nichts mit Stasi oder gar SED-Hörigkeit zu tun hatte, sondern mit seiner Erfahrung, dass das Überleben der Kirche im Sozialismus nur möglich wurde, wenn er wirklich nichts, oder fast nichts, über die verschlungenen Wege verriet, auf denen er seine Kontakte pflegte, mit wem er wann sprach, und worüber.

Sicher war nur: Er wollte diese Kirche retten, und da er nicht damit rechnen konnte, dass der Sozialismus Honeckerscher Prägung jemals verschwinden würde, bedeutete das, dass Überleben des organisierten Protestantismus ohne ein gewisses Maß an Symbiose mit dem Staat nicht gelingen würde.

Die von Konservativen lange voller Hass beförderte Fiktion, Stolpe habe durch seine Stasi-Kontakte die Kirche der SED ausgeliefert, ist so ziemlich das Abstruseste, was man sich im politischen Meinungskampf ausdenken konnte. Die SED wusste nur zu genau, dass Stolpe ein Mann der Kirche und nicht einer des Regimes war.

„Ekelerregendes Ärgernis“

Vor vier Jahren, im Februar 2012 bei der Verleihung des Europäischen Kulturpreises für Politik an ihn, hat Helmut Schmidt als sein Laudator dieses Thema noch einmal angepackt, und man spürte das Zornesbeben in der Stimme des Altkanzlers, als er sich an eine Begegnung mit Stolpe und anderen hohen Repräsentanten des Bundes der Evangelischen Kirche in der DDR erinnerte. Es müsse wohl 1981 gewesen sein, als erkennbar wurde, dass die sozialistischen Staaten das polnische Freiheitsstreben mitsamt der Gewerkschaft Solidarnosc am liebsten zusammenknüppeln würden. Damals habe er, schildert Schmidt eindringlich, Stolpe gebeten, die DDR-Führung so hoch oben wie überhaupt möglich flehentlich zu bitten, es dürften sich keine deutschen Soldaten an einer Intervention in Polen beteiligen. Seine Vorstellung dabei sei natürlich gewesen, dass Stolpe nach der Rückkehr in die DDR der Stasi und wem auch immer über das Gespräch mit dem westdeutschen Regierungschef würde berichten müssen. Alles andere wäre, impliziert der Realpolitiker Schmidt, doch völlig weltfremd gewesen und nennt die Verdächtigungen gegen Stolpe dann ein „ekelerregendes Ärgernis“.

Die Krankheit hatte Stolpe, der nie von auffallender Statur war, zu diesem Zeitpunkt noch zarter, hinfälliger gemacht. Aber in diesem Moment, in dem tosenden Beifall des Publikums über Schmidts Sätze im Auditorium Maximum der Humboldt-Universität, saß er ganz gerade und seine Augen waren etwas weniger klar als sonst.

Gerd Appenzeller

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