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Linker Spitzenkandidat bei der Landtagswahl: Sebastian Walter ist die "Stimme des Ostens"

Sebastian Walter (Linke) ist mit 29 der jüngste Spitzenkandidat für die Brandenburg-Wahl. Er hatte schon früh viel zu sagen. Aber seine Sprache musste er erst finden

Potsdam - Ohne Frau Haas wäre er jetzt nicht hier. Sebastian Walter steht auf dem Alten Markt in Potsdam und verkündet, welche Projekte die Linke sofort angehen will, falls sie nach der Landtagswahl am 1. September wieder in die Regierung kommt. Vor ihm ist ein Mikrofonständer aufgebaut. „Hört man mich?“, fragt er, als das Mikrofon durch eine Rückkopplung kurz pfeift. Ja, man hört ihn, er ist gut zu verstehen. „Wir wollen Wohnraum sichern“, sagt Walter. Die Alliteration kommt flüssig über seine Lippen, die drei Ws halten ihn nicht auf. Er spricht klar, deutlich, gerät nicht ins Stocken. Sebastian Walter, der 29 Jahre alte Spitzenkandidat der Linken für die Landtagswahl, ist mittlerweile wohl einer der besten Redner seiner Partei. Als „Stimme des Ostens“ will Walter die Linke im Wahlkampf präsentieren. Ohne Frau Haas könnte er das nicht.

Als Kind ein Stotterer

Frau Haas ist mittlerweile pensionierte Logopädin aus Walters Heimatstadt Eberswalde im Barnim, wo er heute noch wohnt. Sie hat Sebastian Walter beigebracht, keine Angst vor Alliterationen zu haben, nicht zu kapitulieren vor langen Sätzen. Denn, worüber er sonst nicht spricht: Sebastian Walter war Stotterer. „Bis zu meinem 14. Lebensjahr habe ich keinen geraden Satz herausbekommen“, sagt er. Diese Erfahrung habe ihn geprägt. „Etwas sagen zu wollen und einfach keine Stimme zu haben“ – das sei belastend gewesen, gerade für einen umtriebigen Typen wie ihn. Fließend lesen und schreiben kann er aufgrund seiner Sprechstörung erst in der dritten, vierten Klasse. Aber er habe immer Menschen um sich gehabt, die an ihn glaubten. Eltern, Lehrer, Freunde – und Frau Haas.

Ihr Training hilft, so wie im Film „The King’s Speech“, der die Geschichte des stotternden britischen Königs Georg VI. erzählt. Und sobald Walter auf einer Bühne steht, kommen die Sätze meist wie von selbst. In der siebten Klasse fängt er an, Kabarett zu machen. „Wenn ich vor vielen Leuten gestanden habe, konnte ich immer reden“, sagt er. Zur Zeit, im Wahlkampf, redet er vor allem über eins: den Osten, die Unterschiede, die es heute noch gibt zwischen Ost und West. Dabei kennt er die DDR nur vom Erzählen. Walter ist 1990 geboren. Ein Wendekind.

„Eine ganz normale DDR-Familie“

„Meine Kindheit war total schön“, sagt er. Er hat drei deutlich ältere Geschwister, 35, 42 und 45 Jahre alt. „Eine ganz normale DDR-Familie“, sagt er. Eine, der es vor der Wiedervereinigung nicht schlecht ging – und danach auch nicht. Die Mutter verliert nach der Wende zwar ihren Job im Betonwerk Eberswalde, findet aber schnell etwas Neues. Sein vor zwei Jahren verstorbener Vater, Jahrgang 1944, war SED-Mitglied und Oberst bei der Transportpolizei in Berlin, der DDR-Bahnpolizei. Als dieser Kontakt aufnimmt zu seinem Vater – Sebastian Walters Großvater – der nach Bayern gegangen ist, wird er vor die Wahl gestellt: Karriere oder Vater. Er weiß, was ihm wichtiger ist – und wird unehrenhaft entlassen, findet aber in einem Chemiewerk eine Anstellung, wird Betriebsleiter. Nach der Wende, so habe es der Vater erzählt, kamen zwei Westdeutsche auf das Werksgelände. Er jagt sie vom Hof, sagt: „Das ist hier Unsers.“ Die Wessis übernehmen ihn.

„Nach der Wende war mein Vater immer CDU-Wähler“, sagt Walter. Wie kommt der Sohn dann zur Linken? Es hat viel mit seinem Gerechtigkeitsempfinden zu tun. „Ich hatte immer Glück“, sagt er. „Ich habe nie Armut erfahren.“ Einmal im Jahr ein großer Familienurlaub und mindestens einmal im Monat eine Fahrt an die Ostsee. Aber da habe es eben viele in seiner Klasse gegeben, die fuhren nie ans Meer. Deren Eltern hatten keinen Job, kein Geld. „Mir war früh aufgefallen, dass es nicht allen so gut geht“, sagt Walter. „Das fand ich ungerecht.“

Und dann war da die Oma, Jahrgang 1921. Sie überlebt die Bombennacht in Dresden, spricht viel mit ihrem Enkel darüber. „Sie hat mich dolle geprägt“, sagt er. 2003, während des Irakkriegs, bastelt er ein Transparent. „Krieg ist keine Lösung“ steht darauf. So marschiert er zu seiner ersten Demo in Eberswalde. Als Zwölfjähriger. Früh engagiert er sich gegen Rechtsextremismus in seiner Heimatstadt, in der 1990 der Angolaner Amadeu Antonio von Neonazis zu Tode geprügelt wurde.

Von den Hart-IV-Demos zu den Linken

Richtig politisiert wird Walter 2004/2005, zur Zeit der von SPD-Kanzler Gerhard Schröder umgesetzten Hartz IV-Gesetzen, als auch in Brandenburg immer wieder montags Menschen gegen die Sozialreform auf die Straße gehen. In seinem Umfeld, in den Familien seiner Freunde, seien viele arbeitslos gewesen. „Die waren doch nicht faul, das sind doch fähige Leute gewesen.“ Die Hartz IV-Demos bringen ihn als 14-Jährigen zur Linken, die da noch PDS heißt. Er gründet in Eberswalde den Jugendverband und macht ein Schülerpraktikum im Wahlkreisbüro des Abgeordneten Ralf Christoffers in Bernau, dem späteren Wirtschaftsminister.

Hier schließt sich ein Kreis, denn Walter könnte Christoffers als Chef der Landtagsfraktion beerben. Zumindest heißt es in Parteikreisen, dass seine Rolle nach der Wahl – egal ob die Linke in die Regierung oder die Opposition kommt – wohl diese sein dürfte. „Natürlich kann er eine solche Funktion ausfüllen“, sagt sein früherer Mentor. Schon früh, beim Praktikum habe er das politische Talent Walters bemerkt. Dessen frühe Politikinteressiertheit habe bei ihm nicht dazu geführt, dass er Funktion und Person verwechselt. Er ist auf dem Teppich geblieben, soll das wohl heißen. „Manchmal wird gesagt: Der ist zu jung“, sagt der 33 Jahre ältere Christoffers. Altklug sagen auch manche, gerade die politischen Gegner. Aber Christoffers teilt diese Meinung nicht. In diesem Alter Verantwortung zu übernehmen – das sei gerade in diesen schwierigeren Zeiten mit einer erstarkenden Rechten gefordert.

Ein Schwiegermuttertyp

Sein junges Alter ist ein großes Plus für die Partei. Er bringt nicht den Ballast der DDR-Vergangenheit mit. SED, Stasi, das alles scheidet bei ihm aus. Trotzdem, und das ist Christoffers wichtig zu betonen, habe Walter genug Erfahrung um zu verstehen, was manche Ost-Biografie ausmache. Walter kann ein Kandidat für alle sein. Jüngere können sich von ihm genauso angesprochen fühlen wie die ältere Stammklientel der Linken. Er kommt – äußerlich – fast schon gediegen-konservativ daher für sein Alter, ein Schwiegermuttertyp. Meist trägt er Jackett zu Jeans und T-Shirt oder Hemd und Blouson sowie hellbraune Lederschuhe. „Tritt hier Günther Jauch zur Wahl an?“, fragt ein Kommentator scherzhaft bei Facebook. Tatsächlich, mit Brille und ordentlicher Frisur hat er auf seinen Wahlplakaten eine Ähnlichkeit mit dem Moderator.

Sein größtes Manko: Anders als den Potsdamer Showmaster kennt ihn kaum jemand. Googelt man den Namen „Sebastian Walter“, erscheint zwar tatsächlich ein Politiker ganz oben auf der Trefferliste – aber es ist ein gleichnamiger Grüner im Berliner Abgeordnetenhaus.

Aber für die mangelnde Bekanntheit kann er nichts. Zu kurzfristig war seine Ernennung zum Spitzenkandidaten. Eigentlich war Sozialministerin Diana Golze gesetzt. Dann kam der Lunapharm-Skandal um gestohlene Krebsmedikamente. Golze trat vergangenen Sommer als Ministerin zurück, blieb aber Parteivorsitzende. Als Spitzenkandidatin war sie jedoch untragbar geworden. Als er gefragt wurde, ob er kandidieren wolle, habe er nach kurzem Zögern zugesagt. Auch, weil er im Duo mit der Landtagsabgeordneten und früheren Lehrerin Kathrin Dannenberg antritt – die landesweit auch kaum einer kennt.

Aber Walter kennt sie gut, die beiden verstehen sich. Er war früher mit Dannenbergs Tochter liiert. Inzwischen ist er frisch verheiratet, mit einer anderen, Katharina Walter. Die beiden kennen sich aus dem Lehramtsstudium. Sie ist gleichalt, sitzt mittlerweile wie ihr Mann für die Linke im Eberswalder Stadtparlament. Wie seine Frau wollte Walter, nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), eigentlich Lehrer werden, für Geschichte und Lebenskunde-Ethik-Religion (LER), aber davon hat er sich verabschiedet. Den Bachelor schließt er an der Uni Potsdam noch ab, mit Mühen. Denn in den Semesterferien, wenn er eigentlich Hausarbeiten schreiben soll, macht er Politik. Mit 19 wird er Kreisvorsitzender der Linken im Barnim, mit 22 stellvertretender Landesvorsitzender, zeitweise arbeitet er in der Pressestelle der Landtagsfraktion, dann in der Geschäftsstelle des Landesverbandes in Potsdam.

Und dann kommt die Gewerkschaft. Mit gerade einmal 26 wird er DGB-Regionalgeschäftsführer in Ostbrandenburg. Ein Traumjob sei das gewesen, wie er sagt, weil er für andere kämpfen kann. Und dann sprudelt es nur so aus ihm heraus. „Ich habe immer gewusst, dass der Kapitalismus schlimm ist. Aber dass er so schlimm ist“, sagt er. Da müssten Azubis 180 Überstunden schieben, im ersten Lehrjahr, berichtet er. „Und wenn du einmal morgens um 4.30 Uhr an so einem Werkstor stehst und hast da 300 Leute, die für ihre Rechte streiken – da bekommst du Gänsehaut.“

Solidarität, bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, das sind auch in der Politik seine Themen. Viele Ostdeutsche hätten das, was er ein „Treuhandtrauma“ nennt. Sie hätten Angst, selbst ihre schlecht bezahlten Jobs zu verlieren. Die Leute hätten erfahren, dass ihre Erfahrungen aus der DDR nichts mehr wert seien. Und wenn er auf seinem eigenen Rentenbescheid „Rente Ost“ lese, dann frage er sich: „Wo sind wir hier eigentlich? Ich bin sicher nicht weniger produktiv als ein Gleichaltriger im Westen.“

"Was für alle da ist, muss auch allen gehören“

Walter benutzt viele Losungen aus dem Linke-Repertoire. „Der Profit steht im Mittelpunkt und nicht mehr der Mensch“, beispielsweise. Aber es wirkt nicht auswendig gelernt. Er meint das so – und spart auch nicht mit Kritik an der eigenen Partei, wenn diese sich nicht genug für das einsetzt, wofür sie eigentlich steht. Bei der öffentlichen Daseinsvorsorge, die in Brandenburg gerade in den ländlichen Regionen immer schwieriger wird, habe man zu lange geglaubt, dass das schon werden würde. „Aber nee, das wird nüscht“, sagt er mit Nachdruck. Die Eigentumsfrage ist für ihn dabei eine entscheidende. Mit Krankenhäusern, Busunternehmen und Wohnungen dürfe kein Profit gemacht werden, „denn was für alle da ist, muss auch allen gehören“. Dass die Linke nun eine Volksinitiative gegen die Rückforderungen der Hohenzollern startete, findet er weder billig noch rückwärtsgewandt. „Die Menschen haben das Gefühl, dass ihnen wieder etwas weggenommen wird“, sagt er. Deshalb sei die Hohenzollern-Frage auch eine Zukunftsfrage: „Wem gehört dieses Land?“
Das alles erzählt er im Wahlkampf immer wieder. Auf dem Alten Markt weht der Wind den Partei-Aufsteller um. Aber Walter lässt sich nicht rausbringen, redet und redet. Dabei kann es jederzeit wiederkommen, das Stottern. Es gab so eine Situation im Studium, während eines Seminars. Eine Dreiviertelstunde lang bringt er keinen geraden Satz heraus. „Das ist eine Kopfsache“, sagt er. Und jetzt, wo es „ums Ganze geht“, wie der Parteislogan heißt, und er pausenlos reden muss? „Sobald ich daran denke, wird es schwierig“, sagt er. „Also denke ich nicht dran.“

Neulich hat er Heiderose Haas wiedergetroffen. Er hielt eine Jugendweiherede in Eberswalde, 15 Minuten am Stück, mühelos. Seine frühere Logopädin saß im Publikum. Er sei ihr immer noch sehr dankbar, sagt Walter. Frau Haas hat ihm eine Stimme gegeben. Schon vor der Wahl.

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