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Brandenburg: Liebe in Zeiten des Internets

Die 14-jährige Alyssa aus Eichwalde wurde von einem Bekannten aus dem Netz mit 78 Messerstichen getötet. Nach 20 Prozesstagen fällt nun das Urteil

Von Sandra Dassler

Eichwalde/Cottbus - „Die Tat ist heute noch genauso unfassbar wie vor eineinhalb Jahren“, sagt eine Lehrerin der Ludwig-Witthöft-Oberschule in Wildau. Hier ging die 14-jährige Alyssa in eine der 9. Klassen – bis zum 18. November 2013, als sie auf dem Nachhauseweg von der Schule auf unfassbar grausame Weise sterben musste: Mit 78 Messerstichen soll der heute 21-jährige Maurice M. aus Lohmar in Nordrhein-Westfalen das Mädchen getötet haben. Alyssa starb auf einer Wiese in der Nähe des S-Bahnhofs Eichwalde, nur wenige Hundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt.

Am heutigen Donnerstag will das Landgericht Cottbus ein Urteil über Maurice M. fällen. War es Mord, wovon die Staatsanwaltschaft und die Vertreter der Nebenkläger überzeugt sind? Oder Totschlag, wofür die Verteidiger des jungen Mannes am vergangenen Montag plädierten?

20 Prozesstage lang hatten die Richter Zeit, sich ein Bild über die Tat zu machen. Dass sich das im August letzten Jahres eröffnete Verfahren so lange hinzog, hat Alyssas Eltern schwer belastet. Mehrfach war die Mutter im Gerichtssaal weinend zusammengebrochen – etwa als Rettungskräfte schilderten, wie sie das Mädchen fanden oder als der Gerichtsmediziner über die Verletzungen berichtete.

Dabei hatten die Eltern eigentlich alles richtig gemacht: Als sie erfuhren, dass ihre 14-jährige Tochter, die sich für japanische Comics begeisterte, Kontakt mit einem Jungen im Internet aufgenommen hatte, reagierten sie nicht ablehnend. Als Alyssa, die wochenlang mit Maurice M. gechattet hatte, erzählte, dass dieser sie treffen wolle, luden sie ihn zu sich nach Hause ein. Für Alyssa verlief das erste persönliche Treffen mit dem sechs Jahre Älteren eher enttäuschend. Auch die Eltern rieten zur Zurückhaltung, doch als Alyssa den Kontakt einschränkte, wurde Maurice M., der sich angeblich unsterblich in sie verliebt hatte, aufdringlich. Er drohte, sich umzubringen, wenn sie ihn „verlasse“.

Ein psychiatrischer Gutachter bescheinigte dem jungen Mann während der Verhandlung am Cottbuser Landgericht eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Auch empfinde er keine Empathie, könne sich also nicht in die Gedanken oder Gefühle anderer hineinversetzen. Alyssa hingegen wurde von ihren Eltern, Freunden und Lehrern als sehr mitfühlendes, freundliches Mädchen beschrieben. Wahrscheinlich tat ihr Maurice leid. Womöglich spielte auch eine Rolle, dass sich ihr älterer Bruder einige Jahre zuvor das Leben genommen hatte – jedenfalls willigte sie in ein weiteres Treffen ein.

Wieder kam Maurice M. nach Eichwalde, diesmal sagte ihm Alyssa, dass sie die Beziehung beenden wolle. Alyssas Mutter brachte ihn noch zum Berliner Busbahnhof. „Sie macht sich immer noch Vorwürfe, dass sie nicht gewartet hat, bis er eingestiegen und losgefahren war“, sagt Rechtsanwalt Sven Peitzner, der die als Nebenkläger auftretenden Eltern vertritt. Denn Maurice fuhr nicht zurück, sondern nahm ein Zimmer in Grünau und lauerte Alyssa in Eichwalde auf.

Im Prozess wurde klar, dass sich die beiden zunächst unterhielten, irgendwann wandte Alyssa dem Angeklagten den Rücken zu, worauf dieser ihr dreimal mit einer Bierflasche auf den Kopf schlug. Als sie benommen am Boden lag, stach er zunächst mit einem kleinen, dann mit einem großen Messer auf sie ein. Möglicherweise, so erklärten Gerichtsgutachter, waren schon die ersten Messerstiche tödlich, weil sie die Bauchaorta des Mädchens durchtrennten.

Auf die Tötung Alyssas trifft nach Ansicht der Staatsanwaltschaft sowohl das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe als auch der Heimtücke zu – sie rechnete überhaupt nicht mit einer körperlichen Attacke und konnte sich daher nicht wehren. Da Maurice’ geistiger Entwicklungsstand einem Gutachten zufolge einem 16-Jährigen ähnelt, wird er wohl nach Jugendstrafrecht verurteilt. Sollte das Gericht feststellen, dass Mord und eine besonders schwere Schuld vorliegen, kann die Höchststrafe für Heranwachsende15 Jahre betragen. Die Staatsanwaltschaft hat dies beantragt und auch die Nebenkläger halten das für angemessen.

Die Verteidiger von Maurice M. plädierten hingegen auf Totschlag und eine Haftstrafe nicht über neun Jahren. „Wir dürfen die Tat nicht moralisch, sondern müssen sie nach streng juristischen Kriterien beurteilen“, sagt der Cottbuser Anwalt Michael Sinapius. Und da sei das Merkmal der Heimtücke nicht erfüllt, weil die Schläge mit der Flasche nicht tödlich gewesen seien. Und statt niedriger Beweggründe attestiert er seinem Mandanten aufgrund der narzisstischen Persönlichkeitsstörung eine tiefe Kränkung, weswegen er sich nicht mehr habe steuern können.

Vor Gericht hatte Maurice M. geschwiegen und selten eine Regung gezeigt. Die zu Beginn des Prozesses von seinem Rechtsanwalt verlesene Entschuldigung klang für die Eltern von Alyssa nicht ehrlich.

Trotz der Persönlichkeitsstörung gilt Maurice M. nicht als schuldunfähig. Auch eine Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik des Maßregelvollzuges, wovor der Angeklagte wohl am meisten Angst hatte, kommt nicht infrage. Für Alyssas Eltern wird das Urteil – ob neun oder fünfzehn Jahre – kein Trost sein. Wie Hohn liest sich für sie, was im Abschiedsbrief steht, den Maurice M. vor der Tat an seine Eltern verfasste. Er hatte einen Stoffpinguin danebengelegt und geschrieben: „In ihm leben wir weiter.“ Nach der Tat war er auf die S-Bahn-Gleise gelaufen, doch der Triebfahrzeugführer konnte bremsen. Alyssa war da schon verblutet.

Sandra Dassler

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