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Brandenburg: „Kyrill“ legte Brandenburg und Berlin lahm

Schon vor dem Sturm kam vielerorts das öffentliche Leben zum Erliegen. Als der Sturm dann kam, brach das Chaos aus. Warnung meist ernst genommen

Die Meteorologen warnten – und ein ganzes Land und die Bundeshauptstadt folgten. Am Nachmittag kam das öffentliche Leben in Berlin fast zum Erliegen in Brandenburg ging ab dem späten Nachmittag vielerorts nichts mehr. Noch nie hatte eine Orkanwarnung solch eine Resonanz – vielleicht, weil noch viele den Orkan im Juli 2002 in Erinnerung haben, als Berlin und Brandenburg völlig unvorbereitet vom Sturmtief Anita heimgesucht wurden und acht Menschen starben. In Berlin rief die Feuerwehr gestern um gegen 18.30 Uhr den Notstand aus. In weiten Teilen Brandenburgs waren zu diesem Zeitpunkt schon viele Straßen von umgestürzten Bäumen blockiert, war das öffentliche Leben zum Erliegen gekommen, fuhren weder Bahn noch Bus.

Bei der Polizei und Feuerwehr ging man gestern mit voller Besatzung an den Start. Seit dem Nachmittag waren viele Polizisten im Berliner Stadtgebiet unterwegs, um Gefahrenquellen, wie lockere Fassadenteile, Baugerüste oder abknickende Äste zu melden. Die Dienstzeiten der Hundertschaften und der einzelnen Abschnitte bei der Berliner Polizei wurden verlängert, gleiches galt in Brandenburg. Die Feuerwehr hatte die Freiwilligen in Alarmbereitschaft versetzt. Auch sie hatte in Berlin und Brandenburg sogenannte Erkunder ausgeschickt, die gefährliche Stellen melden und möglichst beseitigen sollten. Ein Bauarbeiter, der gegen 16 Uhr wegen des Windes von einem Gerüst stürzte, wurde nur leicht verletzt. Am Abend, waren viele Straßen nicht befahrbar, Tunnel vollgelaufen und Straßen blockiert.

In den Schulen herrschte Ausnahmezustand. Während die Berliner Schulbehörde es schon am Tag zuvor den Eltern frei gestellt hatte, ob ihre Kinder zur Schule müssen, hatte es in Brandenburg keine zentrale Festlegung gegeben. Das Bildungsministerium in Potsdam hatte den Schulbehörden vor Ort freigestellt, wann der Unterricht am Donnerstag enden sollte. Das Ministerium hatte auf eine Verwaltungsvorschrift aus dem Jahre 1997 verwiesen, wonach es den Behörden und Schulen vor Ort freigestellt ist, selbst zu entscheiden, wie bei Unwetterwarnungen zu verfahren ist. Dies gelte auch für den heutigen Freitag. Ansonsten, so ein Ministeriumssprecher, sei es bei Unwetterwarnungen den Eltern freigestellt, ob sie ihre Kinder in die Schule schicken. Landesweit kam es gestern zu erheblichen Verunsicherungen und unterschiedlichen Regelungen. In Berlin und Brandenburg liefen schon am Morgen die Telefone heiß, weil die Eltern sich vergewissern wollten, ob sie ihre Kinder zum Unterricht schicken können – auf dem Lande in Brandenburg herrschte zudem vielerorts völlige Ungewissheit darüber, wann Schulbusse verkehren und damit auch darüber, wann Eltern die Kinder von den Bushaltestellen abholen müssen. Viele Schulen beendeten den Tag vorzeitig nach der vierten oder fünften Stunde oder ließen zumindest das Nachmittagsprogramm ausfallen. In Berlin erschienen hunderte Schüler erst gar nicht. Im Landkreis-Spree-Neiße schlossen alle Kitas, Horte und Schulen schon um 13 Uhr, ebenso viele Schulen in der Prignitz, die der Orkan erste Region Brandenburgs traf. In Cottbus findet heute erst gar kein Unterricht statt – die Schulen haben aber trotzdem auf, um Kinder zu betreuen.

In den Ämtern ging ab mittags oft nichts mehr. Der Landrat von Spree-Neiße, Dieter Friese, verfügte, dass alle öffentlichen Einrichtungen schließen. Die kommunalen Ordnungsämter waren überall in Brandenburg in Alarmbereitschaft versetzt worden. Wie in Schwedt schlossen am Mittag in vielen Orten die öffentlichen Einrichtungen, darunter auch Sport- und Kulturstätten. In Berlin blieben ab 13 Uhr beispielsweise die Rathäuser in Charlottenburg-Wilmersdorf, Pankow und Marzahn-Hellersdorf zu. Vor dem Bezirksamt in Mitte wollte die Hausbesetzerszene gestern ursprünglich gegen einen Polizeieinsatz demonstrieren. Die Veranstalter sagten die Demo ab, das Bezirksamt schloss früher. Die Berliner Bäder-Betriebe schlossen alle Schwimmhallen vorsorglich um 14 Uhr, die Stadtreinigung BSR gab nachmittags auf und schloss ihre Recyclinghöfe. Damit alle noch sicher nach Hause kommen, hieß es auch in vielen privaten Firmen: Bis morgen! So gab es mittags eine Rundmail bei Sony in Berlin, dass es den Mitarbeitern frei gestellt sei, ob sie nach Hause gehen wollen oder weiterarbeiten. Die Humboldt-Universität schickte nachmittags ebenfalls ihre Studenten heim und sagte alle Abendveranstaltungen ab.

Die Gärten der Stiftung Preußische Schlösser in Berlin und Brandenburg öffneten erst gar nicht. Im Zoologischen Garten in Berlin hieß es derweil: Dem Sturm beugen wir uns nicht. Einzig die Raubtiere würden von den Außengehegen in die Häuser gebracht. „Sollte der Sturm doch die Gitter beschädigen, rennen wenigstens die Tiger nicht frei rum“, sagte ein Mitarbeiter.

Auf dem Wasser waren die Verbrecher trotzdem chancenlos: Den Berliner Streifendienst mit seinen 16 Polizeibooten konnte „Kyrill“ am Nachmittag zunächst nicht aufhalten. „Wir sind Seemänner, die Wind und Wellen gewohnt sind“, sagte Olaf Wedekind, ein Sprecher der Wasserschutzpolizei. Mit vielen Verkehrssündern rechnete die Polizei aber nicht. „Wer bei dem Wetter noch unbedingt rudern will, hat selber Schuld.“ Die Binnenschifffahrt ist hingegen größtenteils zum Erliegen gekommen – nicht wegen der Wellen, sondern wegen der starken Windböen. Zu groß sei die Gefahr, dass gerade leere Frachter durch die starken Winde vom „Kurs abkommen und die Böschung hochsausen“, sagte Per Preußer, Vertriebsmanager bei der Reederei Ed Line. Unbeeindruckt zeigte sich hingegen die Reederei Stern und Kreisschifffahrt mit ihren drei verkehrenden Ausflugsdampfern. „Die Entscheidung aufzuhören, überlassen wir unseren Schiffsführern“ sagte Pressesprecherin Heike Pritz.

Auf den Gleisen herrschte weitgehend Stillstand. Zunächst hatte die Deutsche Bahn vorsorglich das Tempo ihrer Züge gedrosselt. Die ICE auf der Schnellfahrstrecke nach Hannover durften nur noch Tempo 200 statt 250 fahren, die Regionalexpress-Züge nur 140 statt 160. An mehreren Stellen im Berliner Netz und auf den Strecken in Brandenburg waren Dieselloks stationiert, um Züge abzuschleppen, die durch zerrissene Oberleitungen nicht mehr weiterfahren konnten. Die Reparaturtrupps waren verstärkt worden. Auch die BVG drosselte bei oberirdisch fahrenden U-Bahnen und Straßenbahnen in Berlin das Tempo. Am Abend dann war das Chaos perfekt – zum einen, weil in Brandenburg und Berlin viele Gleise blockiert und Oberleitungen beschädigt waren; aber auch, weil bundesweit im Bahnverkehr nichts mehr ging: die Bahn hatte den Verkehr deutschlandweit fast komplett eingestellt. Auf der Bahnstrecke Berlin-Hamburg war der Verkehr unterbrochen, nachdem bei Wittenberge die Oberleitung von einem Baum getroffen worden war. Von Berlin aus geplante abendliche Fernzüge in den Westen Deutschlands wurden gestrichen. „So eine Situation haben wir in Deutschland noch nie gehabt“, sagte Bahnchef Helmut Mehdorn.

In der Luft lief erst einmal alles nach Plan – gegen Abend wurden dann die ersten Flüge gestrichen, so Maschinen aus Stuttgart, Frankfurt aber auch England. Zudem hatten viele Maschinen Verspätung. Ein Flughafen-Sprecher forderte alle Fluggäste auf, sich nach ihren Flügen beim Service-Telefon zu erkundigen. Telefon: 0180-5000186. Auf den Flughäfen Tegel, Tempelhof und Schönefeld wurde alles festgezurrt – auch Flugzeuge, meist kleinere Privatmaschinen.

Im Stromnetz gab es mal zu viel und mal zu wenig. Vielerorts war der Strom ausgefallen – allein im Süden Brandenburgs saßen mehr als 13 000 Stromkunden im Dunklen, während insgesamt im Netz ein Überangebot herrschte, weil der Wind die Kohle verdrängt hatte: Die durch den Sturm verursachte hohe Einspeisung von Windkraftstrom ins Netz hatte gestern zur Abschaltung eines Kraftwerksblockes in Jänschwalde (Spree-Neiße) geführt. Einer der sechs 500-Megawatt-Blöcke sei vom Netz genommen worden, sagte ein Sprecher des Energiekonzerns Vattenfall Europe in Cottbus. Der Windkraftstrom müsse laut Gesetz ins Stromnetz eingespeist werden, das bei Sturm den aus Kohle erzeugten Strom nicht mehr voll aufnehmen könne.

Im Kulturbetrieb standen in Berlin schon am Morgen die Zeichen auf Sturm: Die Telefone klingelten in den Theatern im Sekundentakt, weil die Besucher ihre Tickets zurückgeben, umtauschen oder einfach nur erfahren wollten, ob die Veranstaltungen stattfänden. Doch in den meisten Häusern – wie im Theater am Potsdamer Platz, im Quatsch Comedy Club und in der Philharmonie – ließ man sich nicht einschüchtern. Im brandenburgischen Schwedt, wo zwar keine Vorstellungen geplant waren, wurden gegen 18.30 Uhr jedoch die Abendproben abgesagt. Auf dem Probenplan stand: „Faust, der Tragödie Erster Teil“ und „Faust, der Tragödie Zweiter Teil“.abk, Ha, hah, kf, M.v.L., pul, sve, pet

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