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Krude Esoterik: Die Piraten haben den Wertepluralismus falsch verstanden

Ihre Fehltritte wurden den Piraten bisher verziehen. Aber jetzt das: Eine Mitarbeiterin der Berliner Piratenfraktion lässt die Welt in Esoterik-Bänden an ihren fragwürdigen Ansichten zum Thema Aids teilhaben. Und die Parteispitze verweigert sich jeder Kritik.

Komme nun niemand mit bösem Willen! Wir haben uns so viel erklären lassen in den letzten Wochen und Monaten! Und so viel auch eingesehen! Wir haben uns erklären lassen, warum die Piratenpartei nicht genuin verantwortlich dafür ist, wenn unter ihrem Logo im Piratenpad Links zu kinderpornographischen Seiten auftauchen. Wir haben uns erklären lassen, dass ehemalige Neonazis eine zweite Chance in den Reihen der Piraten verdienen, generell: dass eine starke innerparteiliche Demokratie einiges an Wahnsinn erdulden muss.

Wir haben versucht, zu verstehen, warum manches so ist, wie es ist, und anderes gar nicht, und vor allem haben wir akzeptiert, dass man zu so vielen Themen noch keine Position haben kann.

Aber irgendwann reicht es! Da fällt dem parlamentarischen Geschäftsführer der Berliner Piratenfraktion, Martin Delius, zu kruder Esoterik aus der Feder seiner von der Fraktion angestellten Kollegin Daniela Scherler nichts Besseres ein als darauf zu verweisen, dass die Fraktion keinen Beschluss für oder gegen esoterisches Heilertum habe und ergo von personellen Konsequenzen absehe. Einen kritischen Kommentator im Blog der Fraktion weist er zurecht, es sei „nicht die Aufgabe der Piratenfraktion moralische Bewertungen über Menschen, Ansichten oder nebenberufliche Tätigkeiten anderer anzustellen“. Das ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die zumindest gehofft haben, bei den Piraten neben Radikalpluralismus auch ein wenig Moral zu finden. Die hätte vielleicht geholfen, ein wenig mehr Anstoß an Scherlers Buch „Du hast die Macht über dich!“ zu finden, mit dem sie sich 2010 direkt an „junge Menschen“ wandte.

Geschwurbel der Art, dass bei der Krankheit Aids „die Bereitschaft zur Hingabe an das ganze Leben, einschließlich seiner dunklen Seiten, im Vordergrund“ stehe, bedeutet eine unerträgliche Belastung derer, die von Leuten wie Scherler dazu verführt werden, just daran zu glauben: dass Krankheiten jederzeit eine Bedeutung haben. Dass Ansteckung eine Fiktion ist und dass jeder somatisch erkennbare Knoten psychisch zu lösen ist. Vielleicht muss man einmal einen Menschen sterben gesehen haben, der neben dem Krebs auch von Selbstzweifeln zerfressen war, die just einer solchen körpergenialischen Denke entsprangen. Vielleicht reicht aber auch ein bisschen Empathie, um einzusehen, dass derartige Merkwürdigkeiten, so wenig justiziabel sie sind, mit einem achselzuckenden „Solange ihre persönlichen Ansichten ihre Arbeit für die Fraktion nicht behindern“ nicht abzutun sind.

Es ist vor diesem Hintergrund schlicht entsetzlich, dass es bei der Berliner Piratenfraktion eben keine „moralische Bewertung“, kein Normenfundament gibt, das über „Alle dürfen mitmachen“ hinausgeht. Noch vor wenigen Wochen hatte Marina Weisband, Bundesgeschäftsführerin der Piraten, deren Generalziel beim Bundesparteitag in Offenbach noch grob so skizziert, dass möglichst vielen Menschen Zugang zu möglichst viel Wissen ermöglicht und so ihre gesellschaftliche Teilhabe und damit auch ihr Lebensglück gesteigert werden solle. Für das sich darin abzeichnenden Welt- und Menschenbild bedeutet der Tanz der Berliner Piraten mit einer Protagonistin einer gegenteiligen, weil durchweg irrationalen und wissensfeindlichen Weltsicht einen Schlag ins Gesicht. Dem emphatischen Demokratieverständnis der Piraten stünde hier eine Einsicht gut an: dass der bei den Piraten geächtete Totalitarismus nicht erst dort beginnt, wo Menschen an einer demokratischen Wahl nicht teilnehmen dürfen. Sondern dort, wo – und sei es mit dem besten Willen – ein unmenschlicher Druck auf menschliche Seelen aufgebaut wird.  

Ob es sich bei der jüngsten Affäre nun einmal mehr um eine Kinderkrankheit des Systems Piraten handelt, wird auch davon abhängen, wie die Protagonisten der Partei in den kommenden Tagen just dazu Stellung beziehen. Die jungen Grünen, mit denen die Piraten so gerne verglichen werden und die zu Anfang ihres Parteiseins auch ihre Probleme mit esoterischen Strömungen hatten, hatten seinerzeit eine Frau in ihren Reihen, die sich schon damals vehement gegen alle Tendenzen gefühliger Esoterik wandte und später ein sehr polemisches, aber auch sehr interessantes Buch über jenes dubiose Milieu schrieb, aus dem die Piraten nun ihre Geschäftsführerin gecastet haben. Die Frau, um die es geht, heißt Jutta Ditfurth, das Buch „Entspannt in die Barbarei“ . Die Lektüre sei all jenen empfohlen, die die Affäre Scherler aufgrund eines falsch verstandenen Wertepluralismus ganz entspannt sehen.

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