zum Hauptinhalt
Auseinandergerissen. Das klassische Familienmodell aus Vater, Mutter und Kind funktioniert nicht immer. Ersatzeltern können den Kindern temporär oder dauerhaft Rückhalt bieten.

© Jens Kalaene/dpa

Kinder in Pflegefamilien: Eltern sind schneller überfordert

Immer mehr Kinder in Brandenburg sind in Pflegefamilien untergebracht. Das liegt an mehr Sensibilität für das Kindeswohl – und überforderten Eltern.

Potsdam - Einst war sie der letzte Ausweg, meist unter Zwang verordnet, heute wird sie zur Notlösung für verzweifelte Eltern: die Pflegefamilie. Die stellvertretende Leiterin des Jugendamts Cottbus, Yvonne von Deparade, ist es eigentlich gewohnt, dass Familien ihre Kinder nicht hergeben wollen. In ihrer täglichen Arbeit erlebt sie seit einigen Jahren aber das Gegenteil: „Unsere Mitarbeiter machen sich Sorgen, weil gerade junge Mütter oft schnell überfordert sind“, sagt sie. „Die wollen teilweise gar keine anderen Hilfen annehmen, wie etwa Familienhelfer.“ Die Folge: Die Zahl der Kinder in Pflegefamilien ist in Cottbus zwischen 2013 und 2018 von 88 auf 140 gestiegen.

Sensible Jugendämter, überforderte Mütter

Damit ist Cottbus Spitzenreiter einer traurigen Tabelle. 2236 Brandenburger Kinder und Jugendliche waren 2017 in Pflegefamilien untergebracht, das sind 12,5 Prozent mehr als 2013. Das geht aus der Antwort auf eine kleine Anfrage der CDU-Landtagsabgeordneten Kristy Augustin hervor. Die Zahlen überraschten sie nicht, sagt sie. „Es ist gut, dass es eine Sensibilisierung gibt“, sagt Augustin. „Aber teilweise höre ich auch Geschichten von Familien, denen Kinder wegen nichtiger Gründe weggenommen werden.“

Gegen diesen Vorwurf wehrt sich von Deparade. Sie würde gerne mehr Mütter und Kinder gemeinsam stationär unterbringen. „Aber oft können Mütter das nicht annehmen, weil sie von einer stationären Unterbringung abgeschreckt sind“, sagt sie. Dazu komme, dass familiäre und soziale Netzwerke loser und großmaschiger geworden sind. Das zeigen auch die Zahlen des Statistischen Landesamts: Die Zahl der Unterbringungen nach § 44 SGB VIII ist seit 2013 kontinuierlich gesunken. Dieser Paragraf ermöglicht es Familien, einer befreundeten oder verwandten Familie das Kind zu überlassen, ohne Vermittlung durch das Jugendamt. „Was uns auffällt: Familien wohnen nicht wie früher im selben Ort, dazu kommt dann, dass Eltern auch öfter getrennt sind und als Alleinerziehende nicht auf ein Familiennetzwerk in der Nähe des eigenen Wohnorts zurückgreifen können.“

Der Trend in Brandenburg spiegelt eine deutschlandweite Entwicklung wider. „Der Trend zu mehr Fremdunterbringung zeigt sich bereits seit 2005“, sagt Cordula Lasner-Tietze, Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes. Sie sieht den Grund für den stetigen Aufwärtstrend in einem Mentalitätswechsel bei Jugendämtern und Sozialarbeitern. Der Auslöser waren Lasner-Tietze zufolge dramatische Fälle von Kindstötungen. „Man kann davon ausgehen, dass Jugendämter sehr sensibilisiert sind.“ Das zeigt sich auch in anderen Formen der Hilfen zu Erziehung. Auch bei der stationären Unterbringung sind die Unterbringungszahlen zwischen 2013 und 2014 um 40 Prozent gestiegen. Mit dem steigenden Bedarf ist aber auch die Infrastruktur gewachsen. Die Zahl der Standorte von Einrichtungen der stationären Hilfe ist zwischen 2014 und 2018 von 898 auf 1377 gewachsen.

Familie ist besser als Heim

Die Abwägung zwischen Kindswohl und Elternrechten ist schwer und oft strittig. „Kinder fremd unterzubringen ist eigentlich das letzte Mittel“, sagt von Deparade. In einem Punkt sind sich aber alle Expertinnen einig: Kinder sollten möglichst bei ihren Eltern aufwachsen, denn eine Trennung von den Eltern stellt immer einen Bindungsabbruch dar. Der kann das Urvertrauen der Kinder schwächen, die Bindung zu den Eltern nachhaltig beschädigen und zu psychischen Problemen führen. Wenn aber ein Kind nicht bei den Eltern bleiben kann, ist die Pflegefamilie die Alternative, die das Kind am wenigsten beeinträchtigt. Lasner-Tietze weist darauf hin, dass es unterschiedliche Formen der Unterbringung von Kindern außerhalb der Familie geben kann. Die Pflegefamilie, die Erziehungsstellen, Heime oder Wohngruppen. Eine intensive Bindung des Kindes zu Bezugspersonen sei aber am ehesten in Pflegefamilien und Erziehungsstellen gewährleistet. Dabei macht von Deparade aber eine Einschränkung: „Wir erleben zwar Fälle, in denen Kinder dauerhaft in einer Pflegefamilie leben müssen, etwa weil ihre Eltern sie ablehnen“, sagt sie. „Aber je länger die Kinder untergebracht sind, desto schwieriger wird die Rückführung.“

Kritik an Unterbringung im Ausland

Der Anlass für Kristy Augustins Anfrage war eine „Polizeiruf“-Folge, in der Kinder aus finanziellen Gründen in einem Kinderheim in Rumänien untergebracht wurden. Erst in dieser Woche wurden Vorwürfe gegen ein Sozialprogramm in Rumänien mit deutschem Sitz in Potsdam-Babelsberg bekannt. Dort sollen die Kinder und Jugendlichen zur Arbeit gezwungen und erniedrigt worden sein. Ihre Frage nach im Ausland untergebrachten Kindern konnte die Landesregierung nicht beantworten, weil deren Zahl nicht erhoben wird. 850 Kinder sollen in Pflegefamilien im Ausland leben, heißt es im Abspann des „Polizeirufs“. Lasner-Tietze unterscheidet zwischen Kurztrip und Dauerunterbringung: „Handelt es sich um drei Wochen Segeltörn oder zwei Jahre in Rumänien? Will der Jugendliche das selbst, sind Bildung, Gesundheitsversorgung, Teilhabe und Beschwerdemöglichkeiten gegeben?“, sind laut Lasner-Tietze entscheidende Fragen.

Will man wie das Cottbuser Jugendamt die Kinder lieber lokal versorgen, stehen die Behörden vor einem Problem. Der steigenden Anzahl mit Unterbringungsbedarf steht eine schrumpfende Anzahl von Pflegefamilien gegenüber. Dadurch müssen Pflegefamilien oft mehrere Kinder aufnehmen. Viele Familien seien verunsichert, ob sie dem Kind gerecht werden könnten, so von Deparade. Sie erlebt aber auch Positives: „Wir haben hier gerade eine neue Pflegefamilie, die sich schon sehr auf ihr Pflegekind freut.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false